Wilke Weermanns neues Stück »Alle Zeit der Welt« wird am 20. September 2024 in den Kammerspielen uraufgeführt.
12
Für Eve.
Das verkehrte Märchen / Das verkehrte Mädchen
Die zweite sollte später mit Frankenstein das Sci Fi Genre erfinden, eine Geburt ohne Uterus, wie ihre eigene. Die erste Mary brachte die Frauenbewegung voran. Die eine Wallstonecraft die andere Shelley. Beide hießen Mary. Die Taube irrte sich nie. Immer flog eine Taube vom Land in die Stadt. Der Sohn schrieb fleißig Briefe an seine Schwester und seine Mutter. Der kleine Sohn entschied sich bei seinem Vater zu bleiben, damit er die beiden Frauen ziehen ließ. Die Mutter ging mit ihr. Die Tochter hatte den Vater töten wollen aber als sie sah wie jämmerlich er war beschloss sie ihn lediglich zu verlassen. Der Mann erstarrte vor Schreck als er seine lebendige 15 Jährige Tochter sah. Die Mutter hatte Abendessen angerichtet und die Tochter, jetzt wo sie vollständig aus der Erde herausgewachsen war an den Tisch geladen. Die Mutter freute sich so sehr über das vollständige Mädchen. Am nächsten Tag war eine Schulter zu sehen gewesen, bis das Mädchen zur Hüfte aus der Erde ragte. Die Hand begann zu winken und mit den Gelenken zu knacken. Der Arm wuchs über Nacht ganz aus der Erde. Dort war etwas aus dem Boden heraus gewachsen, waren das Finger, wurde das gerade eine Hand? Ihr Sohn wuchs heran und spielte immerzu am Grab seiner Schwester. Als die Frau endlich einen Sohn gebar waren alle erleichtert. Also erstickte man den weiblichen Säugling und die Frau begrub ihn im Garten. Der Mann wollte sie nicht anerkennen und die Frau hatte keine Mittel, es war das 18. Jahrhundert, es war unmöglich das kleine Mädchen allein großzuziehen. Sie brachte trotz aller Gebete nur eine Tochter zur Welt.
Es war einmal eine schwangere Frau im 18. Jahrhundert, die gebar ihrem Mann keinen Sohn.
Das verkehrte Märchen / Das verkehrte Mädchen
Die zweite sollte später mit Frankenstein das Sci Fi Genre erfinden, eine Geburt ohne Uterus, wie ihre eigene. Die erste Mary brachte die Frauenbewegung voran. Die eine Wallstonecraft die andere Shelley. Beide hießen Mary. Die Taube irrte sich nie. Immer flog eine Taube vom Land in die Stadt. Der Sohn schrieb fleißig Briefe an seine Schwester und seine Mutter. Der kleine Sohn entschied sich bei seinem Vater zu bleiben, damit er die beiden Frauen ziehen ließ. Die Mutter ging mit ihr. Die Tochter hatte den Vater töten wollen aber als sie sah wie jämmerlich er war beschloss sie ihn lediglich zu verlassen. Der Mann erstarrte vor Schreck als er seine lebendige 15 Jährige Tochter sah. Die Mutter hatte Abendessen angerichtet und die Tochter, jetzt wo sie vollständig aus der Erde herausgewachsen war an den Tisch geladen. Die Mutter freute sich so sehr über das vollständige Mädchen. Am nächsten Tag war eine Schulter zu sehen gewesen, bis das Mädchen zur Hüfte aus der Erde ragte. Die Hand begann zu winken und mit den Gelenken zu knacken. Der Arm wuchs über Nacht ganz aus der Erde. Dort war etwas aus dem Boden heraus gewachsen, waren das Finger, wurde das gerade eine Hand? Ihr Sohn wuchs heran und spielte immerzu am Grab seiner Schwester. Als die Frau endlich einen Sohn gebar waren alle erleichtert. Also erstickte man den weiblichen Säugling und die Frau begrub ihn im Garten. Der Mann wollte sie nicht anerkennen und die Frau hatte keine Mittel, es war das 18. Jahrhundert, es war unmöglich das kleine Mädchen allein großzuziehen. Sie brachte trotz aller Gebete nur eine Tochter zur Welt.
Es war einmal eine schwangere Frau im 18. Jahrhundert, die gebar ihrem Mann keinen Sohn.
11
Brief
Habe heute auf der Straße eine junge Mutter getroffen, die ihr Baby auf dem Arm hielt. Sie kannte mich bereits aus den Nachrichten.
Wir sprachen eine Weile, ich fragte sie nach dem Namen ihrer Tochter und sie sagte: »Eve«.
Dann fügte sie hinzu: »Sie kam so spät. Wir haben uns schon gefragt, ob sie gar nicht geboren werden mag.«
Kurzbrief via Taube
glaubst du, jemand kann was anfangen mit meinen spenderorganen
Kurzbrief via Taube
sind wir das schicksal unserer eltern? Oder andersherum
was meinst du
Kurzbrief via Taube
egal, vergiss es
Habe heute auf der Straße eine junge Mutter getroffen, die ihr Baby auf dem Arm hielt. Sie kannte mich bereits aus den Nachrichten.
Wir sprachen eine Weile, ich fragte sie nach dem Namen ihrer Tochter und sie sagte: »Eve«.
Dann fügte sie hinzu: »Sie kam so spät. Wir haben uns schon gefragt, ob sie gar nicht geboren werden mag.«
Kurzbrief via Taube
glaubst du, jemand kann was anfangen mit meinen spenderorganen
Kurzbrief via Taube
sind wir das schicksal unserer eltern? Oder andersherum
was meinst du
Kurzbrief via Taube
egal, vergiss es
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Kurzbrief via Taube
Heute habe ich das Märchen gefunden. Es lag unter meinem Bett. Es war auf einen Zettel notiert und vollkommen verkehrtherum erzählt. Man kam sich beim Lesen vor, als hätte man gerade einen Schlaganfall. Als ich es Satz für Satz korrigiert hatte, kam es mir fast so vor, als hätte ich es neu geschrieben. Als Hommage an dein Tattoo hab ich Eve drübergeschrieben.
Heute habe ich das Märchen gefunden. Es lag unter meinem Bett. Es war auf einen Zettel notiert und vollkommen verkehrtherum erzählt. Man kam sich beim Lesen vor, als hätte man gerade einen Schlaganfall. Als ich es Satz für Satz korrigiert hatte, kam es mir fast so vor, als hätte ich es neu geschrieben. Als Hommage an dein Tattoo hab ich Eve drübergeschrieben.
9
Kurzbrief via Taube
otto ist entstorben, der arzt hatte recht
sein herz hat aufgegeben
bin irgendwie traurig
otto ist entstorben, der arzt hatte recht
sein herz hat aufgegeben
bin irgendwie traurig
8
Kurzbrief via Taube
Als ich heute morgen meinen Briefkasten schloss, hielt ich eine Zusage für ein Stipendium in der Hand. Das Stipendium war ausgerichtet an eine Eve, für einen Roman mit dem Titel »Das verkehrte Märchen«. Da musste ich an deinen Oberarm denken. Hoffe dem gehts gut?
Als ich heute morgen meinen Briefkasten schloss, hielt ich eine Zusage für ein Stipendium in der Hand. Das Stipendium war ausgerichtet an eine Eve, für einen Roman mit dem Titel »Das verkehrte Märchen«. Da musste ich an deinen Oberarm denken. Hoffe dem gehts gut?
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Beitrag im Frühstücksfernsehen
Anhören
6
Kurzbrief via Taube
Bei so viel Info krieg ich wieder nur Gefühle. Ich fühl mich generell so viel in letzter Zeit. Ich wünschte ich wär damit so gut wie du, mit deinem saugenden Herzen.
Bei so viel Info krieg ich wieder nur Gefühle. Ich fühl mich generell so viel in letzter Zeit. Ich wünschte ich wär damit so gut wie du, mit deinem saugenden Herzen.
5
Brief
Hey. Ich hab jetzt einen Hamster. Der heißt Otto.
Nicht, weil ich mir das aus Bequemlichkeit so überlegt habe, sondern - also natürlich hab ich mir das GAR nicht überlegt, natürlich hatte ich einfach keine Wahl. Im Garten bei uns war auf einmal ein Loch mit einem Schuhkarton drin. HIER LIEGT OTTO, stand da drauf ... Und erst war der Karton leer, dann nicht mehr, du kannst es dir ja denken ...
Jedenfalls habe ich jetzt diesen Hamster, Otto, und ich mag ihn sehr.
(Ich dachte auch kurz an Eve, ich weiß gar nicht, was für ein Geschlecht er hat. Aber wer will schon ein Tattoo von seinem Hamster?)
Ein Zwerghamster ist er, sagt der Arzt. Lebenserwartung anderthalb Jahre. »Der ist schon über ein Jahr alt«, meinte er, »der wird's nicht mehr lang machen.«
Er hat ja keine Ahnung.
Otto macht all die typischen Hamstersachen, auch die mit dem Rad. Manchmal fällt er raus und ich warte darauf, dass mir besondere Gedanken zur Gesellschaft kommen, aber mir fällt nur das Offensichtliche ein: Alltag und Arbeit.
Seit Otto in meinem Leben ist, denke ich über Palindrome nach. Palíndromos klingt ja schon wie eine Krankheit. Es heißt: »rückwärts laufend«.
Manche behaupten, ein Leben beginnt und endet mit Windeln (oder sowas Ähnliches, ich kann den Spruch nicht mehr finden). Bin mir nicht sicher, ob ich das tröstlich finden soll oder nicht. Dass unsere Leben so sind wie die der anderen. Wie ein Palindrom.
WAS IT A CAR OR A CAT I SAW
So fühlt sich der Satz vorwärts an. Und so rückwärts:
WAS I TAC A RO RAC A TI SAW
Das zumindest ist ein gewisser Trost für mich. Die Worttrennung ist Nonsens und fühlt sich in dieser Richtung falsch an, aber der Sinn bleibt darüber hinaus enthalten. Der Sinn lebt jenseits der Leserichtung.
Übrigens auch ein Palindrom: RENTNER. Fällt mir nur gerade ein wegen deines Rollators
Kurzbrief via Taube
eben mit einem stechenden gefühl in der brust aufgewacht.
vielleicht ist was mit meinem herzen
vielleicht ist da ne eve drin zb
Kurzbrief via Taube
dummer gedanke, natürlich ist was mit meinem herzen. es pumpt einfach nicht
Kurzbrief via Taube
es saugt
Hey. Ich hab jetzt einen Hamster. Der heißt Otto.
Nicht, weil ich mir das aus Bequemlichkeit so überlegt habe, sondern - also natürlich hab ich mir das GAR nicht überlegt, natürlich hatte ich einfach keine Wahl. Im Garten bei uns war auf einmal ein Loch mit einem Schuhkarton drin. HIER LIEGT OTTO, stand da drauf ... Und erst war der Karton leer, dann nicht mehr, du kannst es dir ja denken ...
Jedenfalls habe ich jetzt diesen Hamster, Otto, und ich mag ihn sehr.
(Ich dachte auch kurz an Eve, ich weiß gar nicht, was für ein Geschlecht er hat. Aber wer will schon ein Tattoo von seinem Hamster?)
Ein Zwerghamster ist er, sagt der Arzt. Lebenserwartung anderthalb Jahre. »Der ist schon über ein Jahr alt«, meinte er, »der wird's nicht mehr lang machen.«
Er hat ja keine Ahnung.
Otto macht all die typischen Hamstersachen, auch die mit dem Rad. Manchmal fällt er raus und ich warte darauf, dass mir besondere Gedanken zur Gesellschaft kommen, aber mir fällt nur das Offensichtliche ein: Alltag und Arbeit.
Seit Otto in meinem Leben ist, denke ich über Palindrome nach. Palíndromos klingt ja schon wie eine Krankheit. Es heißt: »rückwärts laufend«.
Manche behaupten, ein Leben beginnt und endet mit Windeln (oder sowas Ähnliches, ich kann den Spruch nicht mehr finden). Bin mir nicht sicher, ob ich das tröstlich finden soll oder nicht. Dass unsere Leben so sind wie die der anderen. Wie ein Palindrom.
WAS IT A CAR OR A CAT I SAW
So fühlt sich der Satz vorwärts an. Und so rückwärts:
WAS I TAC A RO RAC A TI SAW
Das zumindest ist ein gewisser Trost für mich. Die Worttrennung ist Nonsens und fühlt sich in dieser Richtung falsch an, aber der Sinn bleibt darüber hinaus enthalten. Der Sinn lebt jenseits der Leserichtung.
Übrigens auch ein Palindrom: RENTNER. Fällt mir nur gerade ein wegen deines Rollators
Kurzbrief via Taube
eben mit einem stechenden gefühl in der brust aufgewacht.
vielleicht ist was mit meinem herzen
vielleicht ist da ne eve drin zb
Kurzbrief via Taube
dummer gedanke, natürlich ist was mit meinem herzen. es pumpt einfach nicht
Kurzbrief via Taube
es saugt
4
Brief
Verkehrter dear,
ich habe das Gefühl, meine ganze Existenz ist ein Bootstrap-Paradoxon. Nur weil ich in der Zukunft geboren werde, existiere ich jetzt. Beziehungsweise, nein, man kann das Bootstrap Paradoxon ja eigentlich auf die Idee herunterbrechen, dass etwas seine eigene Existenz verursacht. Dann müsste ich mich ja selbst gebären, das geht also nicht. Ja, hier stellt sich die Frage: Wer wird denn eigentlich für unsere Ungeburt verantwortlich sein? Wer sind unsere Eltern und sind sie vorwärts oder rückwärts?
Mir raucht der Kopf. Also, wirklich. Ich rauche seit neustem. Auf der Packung steht übrigens wer raucht, stirbt zweimal öfter an Herzerkrankungen. Gut, dass wir nicht mehr sterben. Die Zigarette und ihre Packung habe ich vor nicht allzu langer Zeit in meinem Mülleimer entdeckt. Und das ist nicht alles. Einige Dinge ändern sich. Gestern wollte ich mich in meinen Rollator setzen und los düsen zum Brötchen holen und auf einmal wusste ich nicht mehr, welchen Knopf ich drücken muss. Außerdem fühlten sich meine Beine an wie Baumstämme, als wären da jetzt Muskeln drin, die vorher nicht drin waren. Zwei meiner Hosen passen nicht mehr.
Ich entwickle mich jetzt also quasi aus der Rente in meine voll berufstätige Zeit hinein und muss sagen, es macht mir schlechte Laune. Ich kriege jetzt ständig Post von einer Künstlersozialkasse. Ich gehe also davon aus, dass ich eine Art Künstlerin bin. Aber kreativ war ich bisher noch nicht. Vielleicht sollte ich was Malen. Ich wüsste gern wo ich meine Werke aufbewahre. Bisher finde ich nur verschlossene Schubladen vor. Als hätte ich die Schlüssel weggeworfen. Also als hätte ich die Schlüssel zu den Schubladen weggeworfen. Die Schubladen sind aber eher klein. Eine große Künstlerin kann ich also nicht sein.
Das heißt für meine Zukunft nichts Gutes. Der Weg hierher wird lang gewesen sein und hart. Worauf ich mich freue, ist das maßlose Trinken. Darüber habe ich Gutes gehört. Das macht man in der Kulturszene so. Und da auf zellulärer Ebene alles widerstandsfähiger wird, habe ich keine gesundheitlichen Bedenken.
Wovor ich allerdings wirklich Angst habe, ist die Angst, die kommen wird, während ich immer ahnungsloser werde. Die Angst der Ahnungslosen ist die Schlimmste. Zukunftsangst. Existenzangst. Sowas.
Das mit der Nabelschnur klingt übrigens nach einer guten Geschichte. Also die Frage nach der passenden Person. Als könnte man sich seine Eltern aussuchen.
Interessant.
Best,
die Oberarmin
Verkehrter dear,
ich habe das Gefühl, meine ganze Existenz ist ein Bootstrap-Paradoxon. Nur weil ich in der Zukunft geboren werde, existiere ich jetzt. Beziehungsweise, nein, man kann das Bootstrap Paradoxon ja eigentlich auf die Idee herunterbrechen, dass etwas seine eigene Existenz verursacht. Dann müsste ich mich ja selbst gebären, das geht also nicht. Ja, hier stellt sich die Frage: Wer wird denn eigentlich für unsere Ungeburt verantwortlich sein? Wer sind unsere Eltern und sind sie vorwärts oder rückwärts?
Mir raucht der Kopf. Also, wirklich. Ich rauche seit neustem. Auf der Packung steht übrigens wer raucht, stirbt zweimal öfter an Herzerkrankungen. Gut, dass wir nicht mehr sterben. Die Zigarette und ihre Packung habe ich vor nicht allzu langer Zeit in meinem Mülleimer entdeckt. Und das ist nicht alles. Einige Dinge ändern sich. Gestern wollte ich mich in meinen Rollator setzen und los düsen zum Brötchen holen und auf einmal wusste ich nicht mehr, welchen Knopf ich drücken muss. Außerdem fühlten sich meine Beine an wie Baumstämme, als wären da jetzt Muskeln drin, die vorher nicht drin waren. Zwei meiner Hosen passen nicht mehr.
Ich entwickle mich jetzt also quasi aus der Rente in meine voll berufstätige Zeit hinein und muss sagen, es macht mir schlechte Laune. Ich kriege jetzt ständig Post von einer Künstlersozialkasse. Ich gehe also davon aus, dass ich eine Art Künstlerin bin. Aber kreativ war ich bisher noch nicht. Vielleicht sollte ich was Malen. Ich wüsste gern wo ich meine Werke aufbewahre. Bisher finde ich nur verschlossene Schubladen vor. Als hätte ich die Schlüssel weggeworfen. Also als hätte ich die Schlüssel zu den Schubladen weggeworfen. Die Schubladen sind aber eher klein. Eine große Künstlerin kann ich also nicht sein.
Das heißt für meine Zukunft nichts Gutes. Der Weg hierher wird lang gewesen sein und hart. Worauf ich mich freue, ist das maßlose Trinken. Darüber habe ich Gutes gehört. Das macht man in der Kulturszene so. Und da auf zellulärer Ebene alles widerstandsfähiger wird, habe ich keine gesundheitlichen Bedenken.
Wovor ich allerdings wirklich Angst habe, ist die Angst, die kommen wird, während ich immer ahnungsloser werde. Die Angst der Ahnungslosen ist die Schlimmste. Zukunftsangst. Existenzangst. Sowas.
Das mit der Nabelschnur klingt übrigens nach einer guten Geschichte. Also die Frage nach der passenden Person. Als könnte man sich seine Eltern aussuchen.
Interessant.
Best,
die Oberarmin
3
Brief
Ich habe darüber nachgedacht, in welcher Richtung ich durch die Zeit reise. Gestern war Mittwoch, heute ist Donnerstag. Und doch bin ich heute einen Tag jünger als gestern. Sie schätzen meinen Körper auf vierzig Jahre. Also sollte ich etwa 2060 ungeboren werden.
Über den Moment meines Endes (Anfangs?) weiß ich natürlich nichts. Das Bewusstsein eines Ungeborenen wird nach und nach aus mir fließen wie das eines Kindes.
Aus vielen handfesten Erinnerungen werden Stück für Stück nur noch Fragmente. Sie zerbröseln bis hin zum großen weißen Rauschen des Kleinkindalters.
Ich verlerne die Kurvendiskussion,
verlerne Flächenberechnung,
verlerne Geraden,
Punkte;
ich verlerne Division, Multiplikation,
verlerne Subtraktion
und zuletzt Addition
in schrumpfenden Zahlenräumen.
Bis zu einer Million, eintausend,
einhundert,
zwanzig.
Ich verlerne das Schreiben und Lesen und Denken und Lieben und eines Tages dann verliert ein Körper, der kein Ich mehr hat (oder noch nicht);
ein Körper, der gesteuert wird von einem blanken Stammhirn;
ein Körper, der reiner Reflex ist,
der verlernt das Atmen.
Ich frage mich, ob mir dann noch eine Nabelschnur wachsen wird oder nicht. Und mit wem sollte sie mich verbinden?
Ich erinnere mich an eine Mutter (nicht aus Erde). Aber ich weiß ihren Namen nicht. Habe schon überlegt, ob sie vielleicht Eve sein könnte.
Ich nehme an, sie ist noch nicht geboren. Oder bewegt sie sich in unserer Richtung durch die Zeit? Ist der Sohn einer Verkehrten immer auch selbst verkehrt?
Womöglich ist das Märchen, an das du dich erinnerst, ein Märchen, das du selbst geschrieben haben wirst. Vielleicht solltest du dein Schreiben daran beenden, dann mehrere Krisen haben, mehrere Entwürfe machen und verwerfen, dich immer weiter an den Beginn des Textes heranschreiben, bis du eines Tages beim ersten Satz landest und von dem ersten Satz bringt dich womöglich etwas auf die Idee, dieses Märchen zu schreiben und der Welt zu – hinterlassen (sofern etwas zu hinter-lassen die chronologisch angemessene Formulierung ist).
Das ist ein Bootstrap-Paradoxon, so viel habe ich gelernt.
Schade übrigens, dass du nicht Eve heißt, es wäre so eine gute Erklärung gewesen. Du musst wissen: An meinem Oberarm habe ich ein Tattoo entdeckt. Du kennst das Motiv. Es ist ein Herz mit einem Schriftzug, ein MOM-Herz. Bloß steht darin: EVE.
Mir gefällt es nicht besonders. Aber natürlich frage ich mich jetzt, wer Eve ist. Oder sein wird. Ich erinnere mich noch nicht an sie.
Und warum diese Eve ein Herz mit Flämmchen unter meiner Haut verdient hat (jedenfalls glaube ich, es sollen Flämmchen sein. Das Tattoo sieht schlecht gealtert aus). Mit der Zeit wird es in meiner sich verjüngenden Haut immer schärfere Konturen annehmen, bis es irgendwann von einem Tag auf den nächsten verschwindet.
Alles Liebe,
der Verkehrte
Ich habe darüber nachgedacht, in welcher Richtung ich durch die Zeit reise. Gestern war Mittwoch, heute ist Donnerstag. Und doch bin ich heute einen Tag jünger als gestern. Sie schätzen meinen Körper auf vierzig Jahre. Also sollte ich etwa 2060 ungeboren werden.
Über den Moment meines Endes (Anfangs?) weiß ich natürlich nichts. Das Bewusstsein eines Ungeborenen wird nach und nach aus mir fließen wie das eines Kindes.
Aus vielen handfesten Erinnerungen werden Stück für Stück nur noch Fragmente. Sie zerbröseln bis hin zum großen weißen Rauschen des Kleinkindalters.
Ich verlerne die Kurvendiskussion,
verlerne Flächenberechnung,
verlerne Geraden,
Punkte;
ich verlerne Division, Multiplikation,
verlerne Subtraktion
und zuletzt Addition
in schrumpfenden Zahlenräumen.
Bis zu einer Million, eintausend,
einhundert,
zwanzig.
Ich verlerne das Schreiben und Lesen und Denken und Lieben und eines Tages dann verliert ein Körper, der kein Ich mehr hat (oder noch nicht);
ein Körper, der gesteuert wird von einem blanken Stammhirn;
ein Körper, der reiner Reflex ist,
der verlernt das Atmen.
Ich frage mich, ob mir dann noch eine Nabelschnur wachsen wird oder nicht. Und mit wem sollte sie mich verbinden?
Ich erinnere mich an eine Mutter (nicht aus Erde). Aber ich weiß ihren Namen nicht. Habe schon überlegt, ob sie vielleicht Eve sein könnte.
Ich nehme an, sie ist noch nicht geboren. Oder bewegt sie sich in unserer Richtung durch die Zeit? Ist der Sohn einer Verkehrten immer auch selbst verkehrt?
Womöglich ist das Märchen, an das du dich erinnerst, ein Märchen, das du selbst geschrieben haben wirst. Vielleicht solltest du dein Schreiben daran beenden, dann mehrere Krisen haben, mehrere Entwürfe machen und verwerfen, dich immer weiter an den Beginn des Textes heranschreiben, bis du eines Tages beim ersten Satz landest und von dem ersten Satz bringt dich womöglich etwas auf die Idee, dieses Märchen zu schreiben und der Welt zu – hinterlassen (sofern etwas zu hinter-lassen die chronologisch angemessene Formulierung ist).
Das ist ein Bootstrap-Paradoxon, so viel habe ich gelernt.
Schade übrigens, dass du nicht Eve heißt, es wäre so eine gute Erklärung gewesen. Du musst wissen: An meinem Oberarm habe ich ein Tattoo entdeckt. Du kennst das Motiv. Es ist ein Herz mit einem Schriftzug, ein MOM-Herz. Bloß steht darin: EVE.
Mir gefällt es nicht besonders. Aber natürlich frage ich mich jetzt, wer Eve ist. Oder sein wird. Ich erinnere mich noch nicht an sie.
Und warum diese Eve ein Herz mit Flämmchen unter meiner Haut verdient hat (jedenfalls glaube ich, es sollen Flämmchen sein. Das Tattoo sieht schlecht gealtert aus). Mit der Zeit wird es in meiner sich verjüngenden Haut immer schärfere Konturen annehmen, bis es irgendwann von einem Tag auf den nächsten verschwindet.
Alles Liebe,
der Verkehrte
2
Brief
Lieber Entstorbener,
ich suche und suche im Grunde alles. Zunächst habe ich dich gesucht, und jetzt suche ich das Märchen, das ich dir unbedingt erzählen will. Ich erinnere mich, und ich erinnere mich nicht.
Das Märchen, das ich suche, handelt von einem Kind, das immer neu aus der Erde wächst. Es scheint also öfter beerdigt zu werden. Wo auch immer ich suche, nur falsche Fährten. Eins ist klar: Es ist ein Märchen über eine angeblich grausame Frau, die ihr Kind nicht will. Ich erinnere diesen Kinderarm, der sich aus dem Boden streckt, wie mein toter Arm sich aus dem Boden gestreckt hat, deinem entgegen.
Aus gegebenem Anlass, nämlich dem, nicht geboren, sondern geborgen zu sein - nein, anders; aus geborenem Anlass, nämlich aus einem Erdloch heraus in dieses Leben gekommen zu sein, also in ein Leben gekommen zu sein, in dem meine Erscheinung sich langsam eher der Vergangenheit als der Zukunft anzunähern scheint, möchte ich kurz ein paar Begriffe klären. Also, ich möchte feststellen, dass es mir in einer Situation wie unserer vollkommen unmöglich scheint, dass wir Dinge erinnern. Also, ich weiß, ich behaupte mich an das Märchen zu erinnern. Aber das kann ja nicht sein. Denn: Wir fangen unsere Erfahrung ja gerade erst an. Also, was wir bisher erfahren haben, ist diese acht Schichten Erde zwischen unseren Teilchen, also unsere Kompostierung und dann unsere Dekompostierung. Ich würde gerne sagen »Ich bin auferstanden«. Aber das würde implizieren, dass ich eine Art Jesus-Potenzial mitbringe. Kann ich leider nicht von mir behaupten. Kann nichts Außergewöhnliches an mir feststellen, außer dass ich mich, wie du, anders herum in der Zeit bewege.
Was ich bisher sagen kann, ist, dass ich die starke Sehnsucht habe, dir dieses Märchen zu erzählen. Es kommt mir so vor, als könne uns das Märchen stärker miteinander verbinden. Ich glaube, im Grunde geht es mir um die Widerständigkeit dieser Person, deren Arm nicht aufhört, aus dem Boden herauszugreifen. Nach etwas. Nach mehr. Eine Person, die mit ihrem toten Arm aus der Erde herausgreift und an sich selbst erinnert. Eine Person, die es nicht lassen kann mit dem Leben. Eine, die zurück muss.
Es ist so seltsam, dass sich das Märchen wie eine Erinnerung anfühlt. So eine, die man nicht ganz zu fassen bekommt oder eine, die man nicht ganz zu greifen wagt. Wie ein Geruch oder ein Lied. Aus gegebenem Anlass lohnt sich aber für uns beide zu fragen: Was ist das Märchen, wenn es keine Erinnerung ist? Die Vergangenheit ist unsere Zukunft, oder? Also ich denke: Während die anderen erinnern, ahnen wir. Also ist das Märchen mit dem Arm keine Erinnerung, sondern eine Vorahnung. Weil also die, also die Vorahnen, die sind ja immer schon tot. Ich nenne mich also die Vorahnin. Ich ahne vor. Ich arme vor. Ich bin die Vorarmin.
Die Oberarmin of it all.
Da braucht es dann eben ein paar Begriffe für, also auch zwischen uns. Wir sind die wahrscheinlich kleinste Gesellschaft der Welt, bestehend aus zwei Menschen. Beziehungsweise, sind wir das eigentlich? Also: Menschen?
Ich benutze für die Beschreibung meines in die Welt Kommens den Begriff geborgen worden sein, weil es meine grundlegende Passivität in der Sache betont. Denn ich würde jetzt nicht von mir behaupten, mich bewusst und ohne Hilfe von Würmern zusammengesetzt zu haben.
Weil, dazu müsste man die Erde ja aus dem Blick lassen, die biochemisch zumindest mitgewirkt hat. Klingt schon bisschen öko, wenn wir behaupten, unsere Mutter ist die Erde. Aber ist trotzdem wahrer als dass wir keine Mutter haben, oder?
Was ist mit unserem Erfahrungsschatz, können wir auf den zugreifen? Denn, also mich treibt die Frage um, woher denn meine ganzen Gedanken kommen, wo ich doch quasi erst seit einer Woche existiere. Also, wir besitzen scheinbar erwachsene Gehirne. Nur meins ist wie ein Sieb. Nichts bleibt bisher richtig drin. Deswegen hilft es auf jeden Fall zu schreiben.
Aber diese Siebhaftigkeit ist vielleicht normal. Wir haben uns ja gerade erst neu zusammengesetzt. Und jetzt leben wir unser Leben, aber in die andere Richtung als die anderen. Also auf unsere Geburt zu. Das heißt die Vergangenheit der Anderen ist unsere Zukunft. Das bedeutet: Wir können im Gegensatz zu allen anderen herausfinden, was in unserer Zukunft mit der Welt passiert. Also ist unser Leben eigentlich das Experiment; wie lebt man, wenn man die Zukunft kennt? Und was wenn diese Zukunft die Vergangenheit aller anderen ist?
Krass gruselig. Bin so froh, dass ich dich gefunden hab.
Mit wem hast du schon gesprochen? Hast du Erinnerungen? Vorahnungen? Hast du auch eine Sozialarbeiterin, die versucht, dich zu behandeln wie einen normalen Menschen? Fühlst du dich davon angegriffen?
PS: Wenn ich es mir aussuchen könnte, dann hieße ich Otto.
PSS: Schade, dass du so weit weg wohnst und ich kein Geld habe.
Alles Gute,
Die Vorahnin
Lieber Entstorbener,
ich suche und suche im Grunde alles. Zunächst habe ich dich gesucht, und jetzt suche ich das Märchen, das ich dir unbedingt erzählen will. Ich erinnere mich, und ich erinnere mich nicht.
Das Märchen, das ich suche, handelt von einem Kind, das immer neu aus der Erde wächst. Es scheint also öfter beerdigt zu werden. Wo auch immer ich suche, nur falsche Fährten. Eins ist klar: Es ist ein Märchen über eine angeblich grausame Frau, die ihr Kind nicht will. Ich erinnere diesen Kinderarm, der sich aus dem Boden streckt, wie mein toter Arm sich aus dem Boden gestreckt hat, deinem entgegen.
Aus gegebenem Anlass, nämlich dem, nicht geboren, sondern geborgen zu sein - nein, anders; aus geborenem Anlass, nämlich aus einem Erdloch heraus in dieses Leben gekommen zu sein, also in ein Leben gekommen zu sein, in dem meine Erscheinung sich langsam eher der Vergangenheit als der Zukunft anzunähern scheint, möchte ich kurz ein paar Begriffe klären. Also, ich möchte feststellen, dass es mir in einer Situation wie unserer vollkommen unmöglich scheint, dass wir Dinge erinnern. Also, ich weiß, ich behaupte mich an das Märchen zu erinnern. Aber das kann ja nicht sein. Denn: Wir fangen unsere Erfahrung ja gerade erst an. Also, was wir bisher erfahren haben, ist diese acht Schichten Erde zwischen unseren Teilchen, also unsere Kompostierung und dann unsere Dekompostierung. Ich würde gerne sagen »Ich bin auferstanden«. Aber das würde implizieren, dass ich eine Art Jesus-Potenzial mitbringe. Kann ich leider nicht von mir behaupten. Kann nichts Außergewöhnliches an mir feststellen, außer dass ich mich, wie du, anders herum in der Zeit bewege.
Was ich bisher sagen kann, ist, dass ich die starke Sehnsucht habe, dir dieses Märchen zu erzählen. Es kommt mir so vor, als könne uns das Märchen stärker miteinander verbinden. Ich glaube, im Grunde geht es mir um die Widerständigkeit dieser Person, deren Arm nicht aufhört, aus dem Boden herauszugreifen. Nach etwas. Nach mehr. Eine Person, die mit ihrem toten Arm aus der Erde herausgreift und an sich selbst erinnert. Eine Person, die es nicht lassen kann mit dem Leben. Eine, die zurück muss.
Es ist so seltsam, dass sich das Märchen wie eine Erinnerung anfühlt. So eine, die man nicht ganz zu fassen bekommt oder eine, die man nicht ganz zu greifen wagt. Wie ein Geruch oder ein Lied. Aus gegebenem Anlass lohnt sich aber für uns beide zu fragen: Was ist das Märchen, wenn es keine Erinnerung ist? Die Vergangenheit ist unsere Zukunft, oder? Also ich denke: Während die anderen erinnern, ahnen wir. Also ist das Märchen mit dem Arm keine Erinnerung, sondern eine Vorahnung. Weil also die, also die Vorahnen, die sind ja immer schon tot. Ich nenne mich also die Vorahnin. Ich ahne vor. Ich arme vor. Ich bin die Vorarmin.
Die Oberarmin of it all.
Da braucht es dann eben ein paar Begriffe für, also auch zwischen uns. Wir sind die wahrscheinlich kleinste Gesellschaft der Welt, bestehend aus zwei Menschen. Beziehungsweise, sind wir das eigentlich? Also: Menschen?
Ich benutze für die Beschreibung meines in die Welt Kommens den Begriff geborgen worden sein, weil es meine grundlegende Passivität in der Sache betont. Denn ich würde jetzt nicht von mir behaupten, mich bewusst und ohne Hilfe von Würmern zusammengesetzt zu haben.
Weil, dazu müsste man die Erde ja aus dem Blick lassen, die biochemisch zumindest mitgewirkt hat. Klingt schon bisschen öko, wenn wir behaupten, unsere Mutter ist die Erde. Aber ist trotzdem wahrer als dass wir keine Mutter haben, oder?
Was ist mit unserem Erfahrungsschatz, können wir auf den zugreifen? Denn, also mich treibt die Frage um, woher denn meine ganzen Gedanken kommen, wo ich doch quasi erst seit einer Woche existiere. Also, wir besitzen scheinbar erwachsene Gehirne. Nur meins ist wie ein Sieb. Nichts bleibt bisher richtig drin. Deswegen hilft es auf jeden Fall zu schreiben.
Aber diese Siebhaftigkeit ist vielleicht normal. Wir haben uns ja gerade erst neu zusammengesetzt. Und jetzt leben wir unser Leben, aber in die andere Richtung als die anderen. Also auf unsere Geburt zu. Das heißt die Vergangenheit der Anderen ist unsere Zukunft. Das bedeutet: Wir können im Gegensatz zu allen anderen herausfinden, was in unserer Zukunft mit der Welt passiert. Also ist unser Leben eigentlich das Experiment; wie lebt man, wenn man die Zukunft kennt? Und was wenn diese Zukunft die Vergangenheit aller anderen ist?
Krass gruselig. Bin so froh, dass ich dich gefunden hab.
Mit wem hast du schon gesprochen? Hast du Erinnerungen? Vorahnungen? Hast du auch eine Sozialarbeiterin, die versucht, dich zu behandeln wie einen normalen Menschen? Fühlst du dich davon angegriffen?
PS: Wenn ich es mir aussuchen könnte, dann hieße ich Otto.
PSS: Schade, dass du so weit weg wohnst und ich kein Geld habe.
Alles Gute,
Die Vorahnin
1
Artikel
Als Friedhofswart Bernd G. an diesem regnerischen Vormittag seinen Arbeitsplatz erreichte, staunte er nicht schlecht:
Dort, wo er beabsichtigte seine Schaufel anzusetzen, war bereits ein Loch im Boden. Und nicht nur das.
In diesem Loch entdeckte er, säuberlich zusammengelegt wie ein Puzzle (so beschrieb er es später auch der Presse), ein Skelett. Gebeine, Gearme, allgemein ein großes Gekörpere in diesem Loch, das ja an sich schon gar nicht hätte da sein dürfen, stellte Bernd G. fest.
Doch das war nur der Beginn einer höchst bemerkenswerten Entwicklung.
Schon als die Behörden eintrafen und nun mit Bernd G. einen Blick auf die Angelegenheit warfen, fielen ihm feine Verbindungen zwischen den Knochen auf. Sicher, so erklärte er es sich damals, mussten sie von vornherein vorhanden gewesen sein. Er musste Muskeln und Sehnen übersehen haben.
Gegen Nachmittag war der Regen zu einem beschränkenden Faktor geworden. Die Lebenden zog es zum Tee an den Esstisch des Bernd G., dem Toten blieb eine behelfsmäßige Überdachung.
Es war ein angenehmes Kränzchen – mancher Mord war hier allen Beteiligten über die Tische gegangen und man sprach wie über gemeinsame Bekannte – als Bernd G. ein Foto zeigen wollte und bemerkte – dass sein Handy wohl noch immer draußen lag.
So schnell es die Höflichkeit erlaubte, huschte er. Der Regen prasselte derart hart auf die Plane über ihm, dass er kaum einen Gedanken fassen konnte. Er entdeckte sein Handy unten in dem seltsamen Loch neben dem Skelett –
Bernd G. stutzte.
Der ordentlich zusammengelegte Haufen Knochen, den er noch vor wenigen Stunden vorgefunden hatte, war – zusammengewachsen. Ganz klar zeichneten sich Bänder, Sehnen und Muskeln ab. Sogar Haut spannte sich da und dort.
Ein Schrei entfuhr ihm (so würde Bernd G. es später allen erzählen, in Wahrheit aber verfiel er in eine Art gläsernes Glotzen).
Wie auf ein Zeichen riss der Regen ab.
Die Damen und Herren der Behörde schlossen zu Bernd G. auf und umstellten mit ihm das Loch im Boden, in dem mittlerweile – das konnte niemand leugnen – eine einwandfreie, ja, eine frische Leiche lag.
Bernd G. fingerte sein Handy hervor und zoomte an das Gesicht des Toten heran. Der Tote hatte die Augen geschlossen und sah (im Gegensatz zu den meisten Leichen, über die man das bloß aus Höflichkeit sagte) tatsächlich aus, als würde er schlafen.
Es war ein junger Mann, vielleicht gerade in seinen Vierzigern (darum also kein wirklich junger Mann, sondern: ein junger Toter). Mit einem schmatzenden Geräusch schoss Bernd G. ein Foto. Diesmal (er ließ das Handy gerade sinken) entfuhr ihm durchaus ein Schrei, denn der junge Tote hatte seine Augen geöffnet.
Brief
So hat mir der Mann, den ich aus Ermangelung einer eigenen Familie oft meinen Vater nenne, erzählt, wie ich geboren wurde. Aber kann man das überhaupt so sagen: geboren?
Ich wurde niemandem entbunden.
Ich war tot. Und dann war ich es nicht mehr. Ich bin sozusagen entstorben.
Und eines Tages - ich denke ungern daran, weil ich nicht weiß, was es bedeuten wird - erlebe ich das Gegenteil einer Entbindung. Eine Ver-Bindung, vielleicht.
Aber was sage ich: ich ich ich. Ich schreibe diesen Brief ja nicht an irgendwen, sondern an dich. Sie scheinen dich ja auf sehr ähnliche Weise gefunden zu haben.
Du heißt nicht zufällig Eve?
Mit vielen Grüßen,
Der Verkehrte
Als Friedhofswart Bernd G. an diesem regnerischen Vormittag seinen Arbeitsplatz erreichte, staunte er nicht schlecht:
Dort, wo er beabsichtigte seine Schaufel anzusetzen, war bereits ein Loch im Boden. Und nicht nur das.
In diesem Loch entdeckte er, säuberlich zusammengelegt wie ein Puzzle (so beschrieb er es später auch der Presse), ein Skelett. Gebeine, Gearme, allgemein ein großes Gekörpere in diesem Loch, das ja an sich schon gar nicht hätte da sein dürfen, stellte Bernd G. fest.
Doch das war nur der Beginn einer höchst bemerkenswerten Entwicklung.
Schon als die Behörden eintrafen und nun mit Bernd G. einen Blick auf die Angelegenheit warfen, fielen ihm feine Verbindungen zwischen den Knochen auf. Sicher, so erklärte er es sich damals, mussten sie von vornherein vorhanden gewesen sein. Er musste Muskeln und Sehnen übersehen haben.
Gegen Nachmittag war der Regen zu einem beschränkenden Faktor geworden. Die Lebenden zog es zum Tee an den Esstisch des Bernd G., dem Toten blieb eine behelfsmäßige Überdachung.
Es war ein angenehmes Kränzchen – mancher Mord war hier allen Beteiligten über die Tische gegangen und man sprach wie über gemeinsame Bekannte – als Bernd G. ein Foto zeigen wollte und bemerkte – dass sein Handy wohl noch immer draußen lag.
So schnell es die Höflichkeit erlaubte, huschte er. Der Regen prasselte derart hart auf die Plane über ihm, dass er kaum einen Gedanken fassen konnte. Er entdeckte sein Handy unten in dem seltsamen Loch neben dem Skelett –
Bernd G. stutzte.
Der ordentlich zusammengelegte Haufen Knochen, den er noch vor wenigen Stunden vorgefunden hatte, war – zusammengewachsen. Ganz klar zeichneten sich Bänder, Sehnen und Muskeln ab. Sogar Haut spannte sich da und dort.
Ein Schrei entfuhr ihm (so würde Bernd G. es später allen erzählen, in Wahrheit aber verfiel er in eine Art gläsernes Glotzen).
Wie auf ein Zeichen riss der Regen ab.
Die Damen und Herren der Behörde schlossen zu Bernd G. auf und umstellten mit ihm das Loch im Boden, in dem mittlerweile – das konnte niemand leugnen – eine einwandfreie, ja, eine frische Leiche lag.
Bernd G. fingerte sein Handy hervor und zoomte an das Gesicht des Toten heran. Der Tote hatte die Augen geschlossen und sah (im Gegensatz zu den meisten Leichen, über die man das bloß aus Höflichkeit sagte) tatsächlich aus, als würde er schlafen.
Es war ein junger Mann, vielleicht gerade in seinen Vierzigern (darum also kein wirklich junger Mann, sondern: ein junger Toter). Mit einem schmatzenden Geräusch schoss Bernd G. ein Foto. Diesmal (er ließ das Handy gerade sinken) entfuhr ihm durchaus ein Schrei, denn der junge Tote hatte seine Augen geöffnet.
Brief
So hat mir der Mann, den ich aus Ermangelung einer eigenen Familie oft meinen Vater nenne, erzählt, wie ich geboren wurde. Aber kann man das überhaupt so sagen: geboren?
Ich wurde niemandem entbunden.
Ich war tot. Und dann war ich es nicht mehr. Ich bin sozusagen entstorben.
Und eines Tages - ich denke ungern daran, weil ich nicht weiß, was es bedeuten wird - erlebe ich das Gegenteil einer Entbindung. Eine Ver-Bindung, vielleicht.
Aber was sage ich: ich ich ich. Ich schreibe diesen Brief ja nicht an irgendwen, sondern an dich. Sie scheinen dich ja auf sehr ähnliche Weise gefunden zu haben.
Du heißt nicht zufällig Eve?
Mit vielen Grüßen,
Der Verkehrte
von Svenja Viola Bungarten und Wilke Weermann
Die Verkehrten
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