Macht unsere Präsenz irgendwas mit diesem Ort oder sind wir bloß Deko?
Ein E-Mail-Wechsel zwischen der Schriftstellerin Fatma Aydemir und dem Autor und Regisseur Nuran David Calis
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Lieber Nuran,
das erste Mal, dass ich freiwillig im Theater war – also abseits von aufgezwungenen Schulausflügen –, war 2009 in Frankfurt. Mich sprach jemand auf dem Campus an und wir gingen auf ein Date ins Schauspiel, zu »König Ödipus« von Sophokles. Ich erinnere mich noch, wie beeindruckt ich war, nicht nur von der Selbstverständlichkeit, mit der ein junger Mann das Theater zu unserem Ort erklärte. Auch von diesem imposanten Glasbau, an dem ich normalerweise nur vorbeilief, jeden zweiten Morgen zu meiner Schicht in einem nahegelegenen Café. Nun saß ich drin, bewunderte die Bühne, das Licht, den Chor, der mit Papiermasken über den Köpfen die Götter pries. Mich überfiel eine Melancholie bei dem Gedanken daran, dass der Text, den wir hörten, über zweitausend Jahre alt war. Ich mochte dieses Gefühl, die krasse Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit. Wir alle sind vergänglich, nur die Geschichten bleiben. The show must go on.
Abseits des Bühnengeschehens verfolgte ich noch ein weiteres Stück, so kam es mir vor: Das Theaterpublikum. Mit seinen Schals und Perlenketten und klackernden Absätzen und Parfüms und Weinschorlen und Meinungen und Laugenbrezeln. Es war so, als sprächen sie eine fremde Sprache mit ihren Gesten und Vokabeln. Ich kam mir vor wie ein Eindringling in einer geschlossenen Gesellschaft, was nicht ausschließlich unangenehm war, sondern auch ein bisschen aufregend. Als hätte ich mich mit meinen ausgelatschten Sneakers durch die Hintertür reingeschlichen unter die feinen Leute, dabei hatte ich mir am Eingang brav ein Studiticket für 8 Euro gekauft (ja, es war ein Date, bei dem getrennt gezahlt wurde). Niemand schaute auf meine Schuhe oder überhaupt in meine Richtung. Ich war wie Luft. Oft ist das der beste Zustand, um das Geschehen genauer zu beobachten.
Was ich sagen will, Nuran: Dieses Haus, was so ganz selbstverständlich Raum einnahm im Herzen der Stadt, in der ich damals lebte, war für mich bloß Teil einer ansehnlichen Kulisse meines Arbeitswegs gewesen. Hätte mich nicht jemand dorthin geschleppt, wäre ich nie auf die Idee gekommen, reinzugehen. Zu denken, ich hätte da was verloren. Wie unwahrscheinlich ist es eigentlich, dass wir unter diesen Umständen als Arbeiter:innenkinder, als Gastarbeiter:innenkind und -enkel am deutschen Theater als Künstler:in gelandet sind? Wen erreichen unsere Geschichten dort überhaupt? Spielen wir nicht im Grunde für dasselbe Publikum, das sich unaufhörlich selbst reproduziert, plus diese ein, zwei Fatmas und Nurans, die sich zufällig dorthin verirren? Was bedeuten wir dem Theater? Macht unsere Präsenz irgendwas mit diesem Ort oder sind wir bloß Deko?
Ich wüsste gerne von deinem ersten Theaterbesuch. Welche Sehnsucht hat das in dir ausgelöst, Nuran? Ich denke, für mich war es eine Sehnsucht nach Geschichten, die bleiben. Deshalb schreibe ich, weil ich zu den grundliegenden Fragen durchdringen will, die mich überdauern, die mir über den Kopf wachsen. Im Grunde bin ich permanent in diesem Luftzustand, schaue den anderen zu, aber bleibe für mich. Meine Tätigkeit, das Schreiben, ist ja auch eine sehr einsame, die eigentlich bloß Ruhe und einen Stift braucht, während du beim Inszenieren nicht ohne Gruppe agieren kannst. Ist es vielleicht auch ein Bedürfnis nach Gemeinschaft, das dich zur Regie trieb?
Ich freue mich von Dir zu hören.
Mach’s gut, Nuran, kolay gelsin.
Sevgiler,
Fatma
»Ich denke, für mich war es eine Sehnsucht nach Geschichten, die bleiben.«
Liebe Fatma,
Der Dichter Federico García Lorca zitierte gerne diesen Vers über Granada:
»Paradies, verschlossen für viele, Gärten, offen für wenige«.
Wenn ich von da, wo ich stehe, in Richtung meines Hauptbahnhofs gehe, werde ich auf dem Weg immer eine stärkere Gegenwärtigkeit erblicken, als momentan im Theater. Woran mag das liegen?! Und wie kann ich versuchen, diesen Riss zu schließen?! Ich denke, dass ich dieser Lücke nicht dadurch entgegentreten kann, dass ich die ästhetische und soziale Frage gegeneinander ausspiele – sondern indem ich sie solidarisch gegenüberstelle und Brücken baue. Ich habe mich, ungefähr seit meinem »Lücke«-Projekt, in Köln, das sich mit der NSU-Nagelbombe auf der Keupstraße befasste, entschlossen, im Theater konsequent am migrantischen Kanon zu arbeiten. So lange ich die Kraft habe und man mich lässt...- Ich habe mich entschlossen, mich an Themen und Persönlichkeiten wie dich oder Dogan Akhanli zu halten. Mich an euren Narrativen zu orientieren. Denn, als ich anfing, gab es solche Stimmen nicht. Ich fühlte mich in meiner Kunst und als Individuum mit meinem Background im Theater isoliert. Aber jetzt gibt es nicht nur dich und mich, es gibt auch Selen Kara, Pinar Karabulut, Ersan Mondtag und natürlich Shermin Langhoff...- Zwar immer noch zu wenige, aber alles Stimmen, die, dich eingeschlossen, konsequenter, kompromissloser sind, als ich damals, als ich anfing.
Ich habe ab ungefähr zu der Zeit, als »Lücke« entstand, mein Leseverhalten geändert. Nicht mehr historische Dinge, sondern mehr die Gegenwart, nicht mehr so Vieles aus dem deutschen Kanon, sondern mehr losgelöst vom deutschen Kontext. Jüngere Stimmen. Gegenwärtige Stimmen. Texte von Sasha Salzmann, Deniz Utlu, Max Czollek haben mir mehr über mich und meine Gegenwart erzählt, als was ich bis dahin gelesen hatte. Ich weiß auch, welche Schwierigkeiten sich mir als Künstler im Theater entgegenstellen: Eine Kunst, die versucht, sich solidarisch mit benachteiligten Gruppen zu zeigen, findet selten einen Draht zum Zuschauer. Es fällt auf der einen Seite schwer, ästhetische Zeichen zu setzen ohne zu moralisieren und auf der anderen Seite, diese zu lesen, ohne sich belehrt zu fühlen. Wie kann ich dem entgegenwirken?! Diese Frage beschäftigt mich sehr im Theater.
Das letzte Theaterstück, das ich gesehen habe – war kein Stück, sondern eine Lesung von Amir Gudarzi im Studio in Mannheim. Wieder einmal kam eine Frage auf: Ob er auf Persisch denke und träume…?! Da frage ich mich, wann wir solche Fragen überwinden?! Wir sind seit 70 Jahren hier...– In meiner Jugend gab es für mich nur einen Sehnsuchtsort, das war das Theater. Klingt seltsam, denke ich, obwohl meine Familie und Freunde, niemand was damit zu tun hatte… Als ich meiner Mutter sagte, dass ich nach München gehe, um Regie zu studieren, ich hatte gerade mein Abitur in der Tasche, fiel sie fast vom Stuhl … Der Gedanke an den Sehnsuchtsort: Theater entstand bei mir sehr früh. Ich war 15 oder 16. Viele in meiner Umgebung, meine Freunde, meine Eltern waren nur mit dem Überleben beschäftigt. Das Nötigste hinbekommen. Ich und meine Eltern auch. Mein Vater war mal wieder arbeitslos und ertrank seinen Kummer und seine Ängste in Raki. Meine Mutter ging morgens um 6 aus dem Hause, putzen, erst bei einer Speditions-Kaufmanns-Familie, dann bei einer Ärzte-Familie, dann ab 13.30 Uhr die Brodhagen Hauptschule und zweimal die Woche noch ein Versicherungsbüro. Abends, da ging ich dann meistens mit. Und ich half bei der letzten Schicht. Alle um mich herum und wir dachten nur ans Miete zahlen, Essen auf den Tisch…- Ich war Einzelkind und irgendwie der einzige Halt für meine Eltern. In dieser Zeit entwickelte sich eine große Sehnsucht nach Solidarität. Vielleicht weil ich mich meine ganze Kindheit als Einzelkind und in der gefühlten Isolationshaft unseres Asylverfahrens allein, ausgegrenzt, unbeachtet und nicht gewollt gefühlt habe.
Meine Teenagerzeit erlebte ich wie unter einer Tarnkappe. Versteckte meine differenzierte Identität, versteckte meine Sehnsucht, Stücke zu lesen, Literatur zu mögen, heimlich ins Theater in Bielefeld zu gehen. Meine Tarnung war der »Türsteher«, denke ich, das Boxen und die Tatsache, keiner Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Doch als ich mit dem Theaterding anfing, fehlte mir die Solidarität, da es fast niemanden im Theater mit ähnlichen Erfahrungen gab. Außer Fatih Akin, aber er machte Filme. Ich erinnere mich, wie ich kurz nach dem Studium Theaterstücke schrieb. Die Theaterleitungen fanden Interesse daran, aber es fanden sich meisten keine Regisseur:innen in meiner Generation, die es umsetzen wollten, meistens winkten sie ab, die Kanak-Welt sei nicht ihre… Dies führte dazu, dass ich anfing, immer öfter die Stücke, die ich schrieb, auch umzusetzen. Den Theaterleitungen und den Künstler:innen um mich herum will ich gar keinen Vorwurf machen. 70 Jahre lang kamen wir kaum in Narrativen vor. Wir waren ein blinder Fleck in der Kulturlandschaft. In den Ausbildungsstätten der Kunsthochschulen, den Institutionen, erwartete man die Umsetzung und Instandhaltung des Kanons. Diese Leerstelle »Der Kanon«, was ist das?! Wer bestimmt das?! Das sehe ich als meine dringlichste Anstrengung im Theater für mich. Die großen Neuerungen des Theaters der 60er, 70er, 80er, 90er setzen sich nie für die migrantischen Erzählungen ein...
Lieben Gruß, Nuran
Der Dichter Federico García Lorca zitierte gerne diesen Vers über Granada:
»Paradies, verschlossen für viele, Gärten, offen für wenige«.
Wenn ich von da, wo ich stehe, in Richtung meines Hauptbahnhofs gehe, werde ich auf dem Weg immer eine stärkere Gegenwärtigkeit erblicken, als momentan im Theater. Woran mag das liegen?! Und wie kann ich versuchen, diesen Riss zu schließen?! Ich denke, dass ich dieser Lücke nicht dadurch entgegentreten kann, dass ich die ästhetische und soziale Frage gegeneinander ausspiele – sondern indem ich sie solidarisch gegenüberstelle und Brücken baue. Ich habe mich, ungefähr seit meinem »Lücke«-Projekt, in Köln, das sich mit der NSU-Nagelbombe auf der Keupstraße befasste, entschlossen, im Theater konsequent am migrantischen Kanon zu arbeiten. So lange ich die Kraft habe und man mich lässt...- Ich habe mich entschlossen, mich an Themen und Persönlichkeiten wie dich oder Dogan Akhanli zu halten. Mich an euren Narrativen zu orientieren. Denn, als ich anfing, gab es solche Stimmen nicht. Ich fühlte mich in meiner Kunst und als Individuum mit meinem Background im Theater isoliert. Aber jetzt gibt es nicht nur dich und mich, es gibt auch Selen Kara, Pinar Karabulut, Ersan Mondtag und natürlich Shermin Langhoff...- Zwar immer noch zu wenige, aber alles Stimmen, die, dich eingeschlossen, konsequenter, kompromissloser sind, als ich damals, als ich anfing.
Ich habe ab ungefähr zu der Zeit, als »Lücke« entstand, mein Leseverhalten geändert. Nicht mehr historische Dinge, sondern mehr die Gegenwart, nicht mehr so Vieles aus dem deutschen Kanon, sondern mehr losgelöst vom deutschen Kontext. Jüngere Stimmen. Gegenwärtige Stimmen. Texte von Sasha Salzmann, Deniz Utlu, Max Czollek haben mir mehr über mich und meine Gegenwart erzählt, als was ich bis dahin gelesen hatte. Ich weiß auch, welche Schwierigkeiten sich mir als Künstler im Theater entgegenstellen: Eine Kunst, die versucht, sich solidarisch mit benachteiligten Gruppen zu zeigen, findet selten einen Draht zum Zuschauer. Es fällt auf der einen Seite schwer, ästhetische Zeichen zu setzen ohne zu moralisieren und auf der anderen Seite, diese zu lesen, ohne sich belehrt zu fühlen. Wie kann ich dem entgegenwirken?! Diese Frage beschäftigt mich sehr im Theater.
Das letzte Theaterstück, das ich gesehen habe – war kein Stück, sondern eine Lesung von Amir Gudarzi im Studio in Mannheim. Wieder einmal kam eine Frage auf: Ob er auf Persisch denke und träume…?! Da frage ich mich, wann wir solche Fragen überwinden?! Wir sind seit 70 Jahren hier...– In meiner Jugend gab es für mich nur einen Sehnsuchtsort, das war das Theater. Klingt seltsam, denke ich, obwohl meine Familie und Freunde, niemand was damit zu tun hatte… Als ich meiner Mutter sagte, dass ich nach München gehe, um Regie zu studieren, ich hatte gerade mein Abitur in der Tasche, fiel sie fast vom Stuhl … Der Gedanke an den Sehnsuchtsort: Theater entstand bei mir sehr früh. Ich war 15 oder 16. Viele in meiner Umgebung, meine Freunde, meine Eltern waren nur mit dem Überleben beschäftigt. Das Nötigste hinbekommen. Ich und meine Eltern auch. Mein Vater war mal wieder arbeitslos und ertrank seinen Kummer und seine Ängste in Raki. Meine Mutter ging morgens um 6 aus dem Hause, putzen, erst bei einer Speditions-Kaufmanns-Familie, dann bei einer Ärzte-Familie, dann ab 13.30 Uhr die Brodhagen Hauptschule und zweimal die Woche noch ein Versicherungsbüro. Abends, da ging ich dann meistens mit. Und ich half bei der letzten Schicht. Alle um mich herum und wir dachten nur ans Miete zahlen, Essen auf den Tisch…- Ich war Einzelkind und irgendwie der einzige Halt für meine Eltern. In dieser Zeit entwickelte sich eine große Sehnsucht nach Solidarität. Vielleicht weil ich mich meine ganze Kindheit als Einzelkind und in der gefühlten Isolationshaft unseres Asylverfahrens allein, ausgegrenzt, unbeachtet und nicht gewollt gefühlt habe.
Meine Teenagerzeit erlebte ich wie unter einer Tarnkappe. Versteckte meine differenzierte Identität, versteckte meine Sehnsucht, Stücke zu lesen, Literatur zu mögen, heimlich ins Theater in Bielefeld zu gehen. Meine Tarnung war der »Türsteher«, denke ich, das Boxen und die Tatsache, keiner Auseinandersetzung aus dem Weg zu gehen. Doch als ich mit dem Theaterding anfing, fehlte mir die Solidarität, da es fast niemanden im Theater mit ähnlichen Erfahrungen gab. Außer Fatih Akin, aber er machte Filme. Ich erinnere mich, wie ich kurz nach dem Studium Theaterstücke schrieb. Die Theaterleitungen fanden Interesse daran, aber es fanden sich meisten keine Regisseur:innen in meiner Generation, die es umsetzen wollten, meistens winkten sie ab, die Kanak-Welt sei nicht ihre… Dies führte dazu, dass ich anfing, immer öfter die Stücke, die ich schrieb, auch umzusetzen. Den Theaterleitungen und den Künstler:innen um mich herum will ich gar keinen Vorwurf machen. 70 Jahre lang kamen wir kaum in Narrativen vor. Wir waren ein blinder Fleck in der Kulturlandschaft. In den Ausbildungsstätten der Kunsthochschulen, den Institutionen, erwartete man die Umsetzung und Instandhaltung des Kanons. Diese Leerstelle »Der Kanon«, was ist das?! Wer bestimmt das?! Das sehe ich als meine dringlichste Anstrengung im Theater für mich. Die großen Neuerungen des Theaters der 60er, 70er, 80er, 90er setzen sich nie für die migrantischen Erzählungen ein...
Lieben Gruß, Nuran
»70 Jahre lang kamen wir kaum in Narrativen vor. Wir waren ein blinder Fleck in der Kulturlandschaft.«
Selam Nuran,
»engagierte Literatur« lautet ein Begriff, der in letzter Zeit wie eine Beleidigung auf Werke angewandt wird, die sich mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetzen. In den Augen einiger Kritiker:innen sind diese (auch meine) Bücher keine »echte« Literatur, weil sie mehr wollen, als auf eine bestimmte Art schön zu sein. Ich kenne das Problem des Gegeneinanderaufwiegens von ästhetischen und sozialen Fragen also zu gut. Und wahrscheinlich ist das eine uralte Strategie des Establishments, die Deutungshoheit zu bewahren darüber, was ein guter Stil ist und was nicht. Die beste Art sich dazu zu verhalten, ist für mich: Einfach weitermachen, produktiv bleiben, sich untereinander austauschen. Du hast sogar eine noch bessere Idee: Einen eigenen Kanon erschließen und mitprägen. Ich bin unsicher, ob mir der Kanonbegriff taugt, Nuran, aber mir gefällt, was du damit vorhast. Ich mag die Idee eines Risses, den du damit zu schließen versuchst.
Mich interessiert, wie du dir dein Publikum imaginierst. Ich weiß, die Frage ist eine absolute Pest: »Für wen schreibst du?« Aber ich würde gerne wissen, was diese Frage mit dir macht? Ob du tatsächlich an konkrete Menschen denkst, wenn du schreibst oder inszenierst? Ich werde das auf öffentlichen Veranstaltungen nämlich oft gefragt und ich tue immer so, als gäbe es keine Antwort auf diese Frage. Dabei stimmt das nicht.
Wenn ich schreibe, also wenn ich diesen Selbstschutz Schicht für Schicht ablegen muss wie ein Kostüm, wenn ich mich in meiner ganzen Verletzbarkeit und auch Lächerlichkeit mir selbst ausliefern muss, um einer Wahrheit auf die Spur zu kommen – habe ich tatsächlich Menschen vor Augen. Nur sind es wechselnde Menschen. Es sind reale und ausgedachte, mir zugewandte und solche, die mich verachten. Menschen, die ich kenne, Menschen, die ich liebe, Menschen, die vor mir gelebt haben und die, die noch kommen werden.
Für wen schreibst du? Oft geht diese Frage ja selbst mit einer Grenzziehung einher. Sie wird nämlich nicht allen Autor:innen gestellt, zumindest nicht in derselben Häufigkeit. Während manchen fiktionalen Erzählungen eine Universalität zugestanden wird, in ihrem Vermögen alle möglichen Leser:innenschaften zu erreichen, sagt man anderen Geschichten den Fokus auf Partikularinteressen nach, Nischenliteratur sozusagen, geschrieben über oder für eine bestimmte Szene, die nichts Allgemeingültiges für eine Gesellschaft zu formulieren vermag – weil sie zu queer ist, oder zu schwarz, oder zu jüdisch, oder zu migrantisch, oder zu arm. Sie kann aber Einblick in eine »andere Welt« verschaffen, die vielen Leser:innen im »normalen Leben« verschlossen bleibt.
In Europa zu schreiben und als Teil einer Diaspora zu gelten, bedeutet immer auch, als Repräsentantin dieser Diaspora wahrgenommen zu werden. In Europa zu schreiben über Figuren, die sich selbst als Teil einer Diaspora begreifen, bedeutet, die eigenen Figuren dem eurozentrischen Blick auszuliefern. Alle Konflikte, die diese Figuren haben, werden potenziell auf ihren kulturellen Hintergrund zurückgeführt. Jedes Fehlverhalten, jede moralische Verwerflichkeit, die ich meinen Figuren einverleibe, als Kritik an der eigenen Community gelesen.
»Für wen schreibst du?«, stellt immer auch implizit die Frage: »Was sagen deine Landsleute dazu?« Die zynische Stimme in meinem Kopf übersetzt das als: »Na, du kleine Netzbeschmutzerin, bei uns bist du sicher.« Kennst du diese Stimme, Nuran?
Bei manchen meiner Lesungen bin ich die einzige rassifizierte Person im Raum. Selbstverständlich fühlt es sich seltsam an, in so einem Raum über Figuren zu sprechen, die gewalttätig sind, die einander unterdrücken und die aus muslimischen Einwandererfamilien stammen. Natürlich sind und tun diese Figuren noch vieles mehr, und das ist nur eine sehr verzerrte, einseitige Zusammenfassung von ihnen, aber irgendwer im Raum wird sie genau so zusammenfassen, und in diesem Wissen sitze ich da. Meine Antworten werden glatt und unpersönlich. Ich bin höflich und dankbar, dort lesen zu dürfen, und gleichzeitig wehre ich mich mit Händen und Füße dagegen, Komplizin zu sein in einem selbstauferlegten Bildungsauftrag reicher weißer Europäer:innen, mit dem sie die armen Migrant:innen vor ihren unzivilisierten Verhältnissen retten wollen. Sie stellen Fragen. Meine Antworten gehen ins Allgemeine, was viele als das Vage deuten mögen, aber das ist es nicht. Die Gewalt und die Unterdrückung, die meine Figuren erfahren und ausüben, sind nicht partikular, will ich damit sagen, sie sind universell. Sie stecken in jeder unserer Beziehungen, egal, wer wir sind. Sie unterscheiden sich vielleicht in Nuancen, in Dialekten, im Klang. Trotzdem gibt es Gespräche, die ich in diesen weißen Räumen nicht führen will, es gibt Stellen in meinem Buch, die ich in der Öffentlichkeit lieber nicht lese. Nicht, weil ich mich ihrer schäme. Sondern weil sie Kontext brauchen. Weil sie Ruhe brauchen. Sie eignen sich nicht für polemische Diskussionen über »Europa und den Islam«, den Besucher:innen nicht selten mit mir führen wollen, weil sie gerade diesen Zeitungsartikel gelesen haben. Ich habe natürlich eine Haltung dazu, meine Figuren sollen dafür aber nicht herhalten. Ein Roman ist kein Debattenbeitrag. Er gibt keine eindeutigen Antworten auf pragmatische Fragen. Er ist Kunst, er will erfahren werden. Unpolitisch ist er deshalb nicht.
Wir alle lesen Literatur, gehen ins Theater mit unterschiedlichen Filtern. Unsere Biografien, die Sprachen, die wir sprechen, die Geschichten, die wir bereits kennen, beeinflussen unseren Blick auf jede neue Erzählung, die wir lesen. Nach den rassistischen Islamdebatten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte wäre es naiv zu glauben, dass meinen fiktiven Figuren mit weniger Vorurteilen begegnet wird, als Menschen auf der Straße. Aber zu glauben, ich entkäme diesem Blick, indem ich meine Figuren so anlege, dass sie jeder eurozentrischen Leseerwartung widersprechen, ist nicht nur naiv, sondern kontraproduktiv. Denn das hieße ja, dass ich tatsächlich ausschließlich für ein weißes, europäisches Publikum schreibe. Und das tue ich nicht. Auch wenn sie natürlich mitlesen, und nicht nur das: Ich schreibe in einer mitteleuropäischen Sprache, es ist klar, wer den Großteil der Leser:innenschaft ausmacht. Der eurozentrische Blick existiert. Ich kann ihm nicht entkommen, indem ich ihn leugne oder ignoriere. Ich bin ja selbst nicht frei von ihm. Ich bin unter diesem Blick aufgewachsen, ich habe ihn verinnerlicht, ich musste immer wieder versuchen in seiner Gunst zu stehen, ihn selbst zu performen, um in der Schule voranzukommen, um an der Uni ernstgenommen zu werden, um Journalistin werden zu können. Natürlich spielt er in meinem literarischen Schreiben eine Rolle, und zwar mehrfach. Es gibt den eurozentrischen Blick der Leser:innenschaft auf meinen Text, und es gibt den eurozentrischen Blick, mit dem sich die Figuren innerhalb der Geschichte arrangieren müssen. Eine Art Spiegelkabinett eröffnet sich also zwischen mir, meinem Text und meinem Publikum. Jedes Schreiben wird zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung mit diesem Blick und jedes Schreiben wird somit auch zum Versuch eines Befreiungsaktes.
Ich kenne mein Publikum nicht, ich weiß nicht, für wen ich schreibe. Aber ich vertraue darauf, dass, wenn ich es schaffe, im Schreiben eine Wahrheit über meinen Blick auf die Welt offen zu legen, es auch Leser:innen geben wird, die dem eigenen Blick neu begegnen.
Sevgiler,
Fatma
»engagierte Literatur« lautet ein Begriff, der in letzter Zeit wie eine Beleidigung auf Werke angewandt wird, die sich mit gesellschaftspolitischen Fragen auseinandersetzen. In den Augen einiger Kritiker:innen sind diese (auch meine) Bücher keine »echte« Literatur, weil sie mehr wollen, als auf eine bestimmte Art schön zu sein. Ich kenne das Problem des Gegeneinanderaufwiegens von ästhetischen und sozialen Fragen also zu gut. Und wahrscheinlich ist das eine uralte Strategie des Establishments, die Deutungshoheit zu bewahren darüber, was ein guter Stil ist und was nicht. Die beste Art sich dazu zu verhalten, ist für mich: Einfach weitermachen, produktiv bleiben, sich untereinander austauschen. Du hast sogar eine noch bessere Idee: Einen eigenen Kanon erschließen und mitprägen. Ich bin unsicher, ob mir der Kanonbegriff taugt, Nuran, aber mir gefällt, was du damit vorhast. Ich mag die Idee eines Risses, den du damit zu schließen versuchst.
Mich interessiert, wie du dir dein Publikum imaginierst. Ich weiß, die Frage ist eine absolute Pest: »Für wen schreibst du?« Aber ich würde gerne wissen, was diese Frage mit dir macht? Ob du tatsächlich an konkrete Menschen denkst, wenn du schreibst oder inszenierst? Ich werde das auf öffentlichen Veranstaltungen nämlich oft gefragt und ich tue immer so, als gäbe es keine Antwort auf diese Frage. Dabei stimmt das nicht.
Wenn ich schreibe, also wenn ich diesen Selbstschutz Schicht für Schicht ablegen muss wie ein Kostüm, wenn ich mich in meiner ganzen Verletzbarkeit und auch Lächerlichkeit mir selbst ausliefern muss, um einer Wahrheit auf die Spur zu kommen – habe ich tatsächlich Menschen vor Augen. Nur sind es wechselnde Menschen. Es sind reale und ausgedachte, mir zugewandte und solche, die mich verachten. Menschen, die ich kenne, Menschen, die ich liebe, Menschen, die vor mir gelebt haben und die, die noch kommen werden.
Für wen schreibst du? Oft geht diese Frage ja selbst mit einer Grenzziehung einher. Sie wird nämlich nicht allen Autor:innen gestellt, zumindest nicht in derselben Häufigkeit. Während manchen fiktionalen Erzählungen eine Universalität zugestanden wird, in ihrem Vermögen alle möglichen Leser:innenschaften zu erreichen, sagt man anderen Geschichten den Fokus auf Partikularinteressen nach, Nischenliteratur sozusagen, geschrieben über oder für eine bestimmte Szene, die nichts Allgemeingültiges für eine Gesellschaft zu formulieren vermag – weil sie zu queer ist, oder zu schwarz, oder zu jüdisch, oder zu migrantisch, oder zu arm. Sie kann aber Einblick in eine »andere Welt« verschaffen, die vielen Leser:innen im »normalen Leben« verschlossen bleibt.
In Europa zu schreiben und als Teil einer Diaspora zu gelten, bedeutet immer auch, als Repräsentantin dieser Diaspora wahrgenommen zu werden. In Europa zu schreiben über Figuren, die sich selbst als Teil einer Diaspora begreifen, bedeutet, die eigenen Figuren dem eurozentrischen Blick auszuliefern. Alle Konflikte, die diese Figuren haben, werden potenziell auf ihren kulturellen Hintergrund zurückgeführt. Jedes Fehlverhalten, jede moralische Verwerflichkeit, die ich meinen Figuren einverleibe, als Kritik an der eigenen Community gelesen.
»Für wen schreibst du?«, stellt immer auch implizit die Frage: »Was sagen deine Landsleute dazu?« Die zynische Stimme in meinem Kopf übersetzt das als: »Na, du kleine Netzbeschmutzerin, bei uns bist du sicher.« Kennst du diese Stimme, Nuran?
Bei manchen meiner Lesungen bin ich die einzige rassifizierte Person im Raum. Selbstverständlich fühlt es sich seltsam an, in so einem Raum über Figuren zu sprechen, die gewalttätig sind, die einander unterdrücken und die aus muslimischen Einwandererfamilien stammen. Natürlich sind und tun diese Figuren noch vieles mehr, und das ist nur eine sehr verzerrte, einseitige Zusammenfassung von ihnen, aber irgendwer im Raum wird sie genau so zusammenfassen, und in diesem Wissen sitze ich da. Meine Antworten werden glatt und unpersönlich. Ich bin höflich und dankbar, dort lesen zu dürfen, und gleichzeitig wehre ich mich mit Händen und Füße dagegen, Komplizin zu sein in einem selbstauferlegten Bildungsauftrag reicher weißer Europäer:innen, mit dem sie die armen Migrant:innen vor ihren unzivilisierten Verhältnissen retten wollen. Sie stellen Fragen. Meine Antworten gehen ins Allgemeine, was viele als das Vage deuten mögen, aber das ist es nicht. Die Gewalt und die Unterdrückung, die meine Figuren erfahren und ausüben, sind nicht partikular, will ich damit sagen, sie sind universell. Sie stecken in jeder unserer Beziehungen, egal, wer wir sind. Sie unterscheiden sich vielleicht in Nuancen, in Dialekten, im Klang. Trotzdem gibt es Gespräche, die ich in diesen weißen Räumen nicht führen will, es gibt Stellen in meinem Buch, die ich in der Öffentlichkeit lieber nicht lese. Nicht, weil ich mich ihrer schäme. Sondern weil sie Kontext brauchen. Weil sie Ruhe brauchen. Sie eignen sich nicht für polemische Diskussionen über »Europa und den Islam«, den Besucher:innen nicht selten mit mir führen wollen, weil sie gerade diesen Zeitungsartikel gelesen haben. Ich habe natürlich eine Haltung dazu, meine Figuren sollen dafür aber nicht herhalten. Ein Roman ist kein Debattenbeitrag. Er gibt keine eindeutigen Antworten auf pragmatische Fragen. Er ist Kunst, er will erfahren werden. Unpolitisch ist er deshalb nicht.
Wir alle lesen Literatur, gehen ins Theater mit unterschiedlichen Filtern. Unsere Biografien, die Sprachen, die wir sprechen, die Geschichten, die wir bereits kennen, beeinflussen unseren Blick auf jede neue Erzählung, die wir lesen. Nach den rassistischen Islamdebatten der vergangenen Jahre und Jahrzehnte wäre es naiv zu glauben, dass meinen fiktiven Figuren mit weniger Vorurteilen begegnet wird, als Menschen auf der Straße. Aber zu glauben, ich entkäme diesem Blick, indem ich meine Figuren so anlege, dass sie jeder eurozentrischen Leseerwartung widersprechen, ist nicht nur naiv, sondern kontraproduktiv. Denn das hieße ja, dass ich tatsächlich ausschließlich für ein weißes, europäisches Publikum schreibe. Und das tue ich nicht. Auch wenn sie natürlich mitlesen, und nicht nur das: Ich schreibe in einer mitteleuropäischen Sprache, es ist klar, wer den Großteil der Leser:innenschaft ausmacht. Der eurozentrische Blick existiert. Ich kann ihm nicht entkommen, indem ich ihn leugne oder ignoriere. Ich bin ja selbst nicht frei von ihm. Ich bin unter diesem Blick aufgewachsen, ich habe ihn verinnerlicht, ich musste immer wieder versuchen in seiner Gunst zu stehen, ihn selbst zu performen, um in der Schule voranzukommen, um an der Uni ernstgenommen zu werden, um Journalistin werden zu können. Natürlich spielt er in meinem literarischen Schreiben eine Rolle, und zwar mehrfach. Es gibt den eurozentrischen Blick der Leser:innenschaft auf meinen Text, und es gibt den eurozentrischen Blick, mit dem sich die Figuren innerhalb der Geschichte arrangieren müssen. Eine Art Spiegelkabinett eröffnet sich also zwischen mir, meinem Text und meinem Publikum. Jedes Schreiben wird zwangsläufig zu einer Auseinandersetzung mit diesem Blick und jedes Schreiben wird somit auch zum Versuch eines Befreiungsaktes.
Ich kenne mein Publikum nicht, ich weiß nicht, für wen ich schreibe. Aber ich vertraue darauf, dass, wenn ich es schaffe, im Schreiben eine Wahrheit über meinen Blick auf die Welt offen zu legen, es auch Leser:innen geben wird, die dem eigenen Blick neu begegnen.
Sevgiler,
Fatma
»Die Gewalt und die Unterdrückung, die meine Figuren erfahren und ausüben, sind nicht partikular, sie sind universell.«
Liebe Fatma,
für wen schreibe ich?! Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erlebt habe. Als ich mit meinem Roman »Der Mond ist unsere Sonne« fertig war und er veröffentlicht wurde, dachte ich, wie schön, das wird meinen Freunden und meiner Familie sehr gefallen. Sie werden bestimmt stolz auf mich sein. Auf »jemanden« aus ihren Reihen, der es geschafft hat, ihre Geschichten zu erzählen. Es gab in meinem Roman viele Figuren, die Ähnlichkeiten zu meinen Verwandten oder Freunden hatten. Ich machte daraus auch kein Geheimnis, dass es eine autobiografisch unterwanderte Coming-of-Age - Erzählung ist. Stark verfremdet, aber dennoch aus der Realität meiner erlebten Wirklichkeit gespeist. Ein oder zwei Freunde meinten kurz nach der Veröffentlichung bei einem Besuch in Bielefeld, ich solle mich hier nicht mehr blicken lassen, sonst würde man mich mit Benzin übergießen und anzünden. Ich sei ein Verräter. Und meine Mutter?! Sie hat den Roman bis heute nicht gelesen, weil ich das Pogrom an den Armeniern und Griechen 1955 in Istanbul erwähnte, das ich aus ihren Erzählungen kannte. Sie war da fünf Jahre alt und sieht die brennenden Häuser und Körper jetzt noch vor sich. Ich war so naiv. Den Aspekt der Re-Traumatisierung hatte ich bei ihr nicht bedacht. Also ja, ich weiß es nicht… von denen ich wollte, dass sie sehen sollen, dass es einer aus ihren Reihen geschafft hat, der trotz Legasthenie Schriftsteller und Autor geworden ist, wollte keiner diese Geschichten lesen. Schlimmer, meine Freunde wendeten sich ab von mir. Sie sahen oder sehen in mir so etwas wie einen Whistleblower, der Geheimnisse verrät oder ihnen in den Rücken gefallen ist.
Mir wurde sehr früh klar, dass ich hier in Deutschland durch meine armenische Herkunft eine Minderheit in der Minderheit war, aufgewachsen in einem Umfeld mit vielen türkischstämmigen Freunden. Meine Eltern waren sehr vorsichtig in meinem Umgang mit meinen Freunden, bis sie herausbekamen, dass fast jeder um mich herum seine eigene Geschichte und Erzählung hatte, die ihrer ähnelte. Bielefeld war und ist ein Zentrum für kurdisches und alawitisches deutsches Leben. Viele meiner Freunde waren Türken, Kurden, Alewiten. Und je höher ich mit ihnen zusammen im Bildungssystem kam, wurde es auch für mich und meine Freunde besser. Wir begannen uns in unseren Geschichten, die wir uns erzählten, miteinander zu solidarisieren. Wir fanden in unseren Geschichten von Gewalt, die über unseren Familien eingebrochen ist, zueinander.
Mir wurde klar, dass jeder seine eigene persönliche, individuelle Geschichte hat, die erzählt werden muss – die Mehrheitsgesellschaft uns aber im Gegenzug alle »gleich« machte und immer noch macht. Ich muss jetzt kurz an meinen Freund Ilker Çatak denken und seinen Satz: »Sandra Hüller, Wim Wenders und der Andere«. Ja, das ist mein Antrieb würde ich sagen.
Ich denke nicht mehr über ein Publikum nach, sondern nur über den Menschen, den ich vorfinde und über den ich erzählen will. Je genauer es mir gelingt, diesen individuellen Menschen, diese eine Geschichte zu erzählen, weiß ich, dass es sein Publikum findet. Losgelöst von ethnischen, religiösen, sozialen Zuschreibungen. Somit gelang es mir, mich aus diesen Schubladen zu lösen, keine Grenzen zu kennen und mich klar »nicht« einordnen zu lassen. Insofern schreibe ich nicht für ein Publikum, sondern vielleicht gegen das gängige Publikum, gegen ein gängiges Narrativ. Gegen ein voreingenommenes, gegen ein kategorisierendes, das gängigen Mustern und Narrativen folgt, gegen Klischees, ihre und meine eigenen. Gegen Ungerechtigkeit, gegen das Vergessen, gegen die eigene Community. Gegen die Tabuisierung. Du hast recht, der europäische Kanon ist uns, mir in die Hände gefallen. Wir konnten es uns nicht aussuchen. Ich bediene mich an diesem Kanon und beziehe Stellung gegen das Muster einer Gesellschaft, das von mir eine Art Unterwerfung einfordert. Ich versuche den Gedanken des Erbes auszudehnen, zu erweitern. Ich bestehe auf mein Recht, auch dieses Erbe einzufordern. Ich sehe mich mit meiner Kunst in einer Art Widerstand: Ich wehre mich gegen Stimmen, die mir aufgrund meiner sozialen und ethnischen Herkunft die ästhetische Stimme absprechen und sie nicht anerkennen.
Lieben Gruß, Nuran
»Leaks. Von Mölln bis Hanau« heißt Nuran David Calis' neues Stück, das am 14. Dezember 2024 in den Kammerspielen uraufgeführt wird.
für wen schreibe ich?! Dazu fällt mir eine Geschichte ein, die ich erlebt habe. Als ich mit meinem Roman »Der Mond ist unsere Sonne« fertig war und er veröffentlicht wurde, dachte ich, wie schön, das wird meinen Freunden und meiner Familie sehr gefallen. Sie werden bestimmt stolz auf mich sein. Auf »jemanden« aus ihren Reihen, der es geschafft hat, ihre Geschichten zu erzählen. Es gab in meinem Roman viele Figuren, die Ähnlichkeiten zu meinen Verwandten oder Freunden hatten. Ich machte daraus auch kein Geheimnis, dass es eine autobiografisch unterwanderte Coming-of-Age - Erzählung ist. Stark verfremdet, aber dennoch aus der Realität meiner erlebten Wirklichkeit gespeist. Ein oder zwei Freunde meinten kurz nach der Veröffentlichung bei einem Besuch in Bielefeld, ich solle mich hier nicht mehr blicken lassen, sonst würde man mich mit Benzin übergießen und anzünden. Ich sei ein Verräter. Und meine Mutter?! Sie hat den Roman bis heute nicht gelesen, weil ich das Pogrom an den Armeniern und Griechen 1955 in Istanbul erwähnte, das ich aus ihren Erzählungen kannte. Sie war da fünf Jahre alt und sieht die brennenden Häuser und Körper jetzt noch vor sich. Ich war so naiv. Den Aspekt der Re-Traumatisierung hatte ich bei ihr nicht bedacht. Also ja, ich weiß es nicht… von denen ich wollte, dass sie sehen sollen, dass es einer aus ihren Reihen geschafft hat, der trotz Legasthenie Schriftsteller und Autor geworden ist, wollte keiner diese Geschichten lesen. Schlimmer, meine Freunde wendeten sich ab von mir. Sie sahen oder sehen in mir so etwas wie einen Whistleblower, der Geheimnisse verrät oder ihnen in den Rücken gefallen ist.
Mir wurde sehr früh klar, dass ich hier in Deutschland durch meine armenische Herkunft eine Minderheit in der Minderheit war, aufgewachsen in einem Umfeld mit vielen türkischstämmigen Freunden. Meine Eltern waren sehr vorsichtig in meinem Umgang mit meinen Freunden, bis sie herausbekamen, dass fast jeder um mich herum seine eigene Geschichte und Erzählung hatte, die ihrer ähnelte. Bielefeld war und ist ein Zentrum für kurdisches und alawitisches deutsches Leben. Viele meiner Freunde waren Türken, Kurden, Alewiten. Und je höher ich mit ihnen zusammen im Bildungssystem kam, wurde es auch für mich und meine Freunde besser. Wir begannen uns in unseren Geschichten, die wir uns erzählten, miteinander zu solidarisieren. Wir fanden in unseren Geschichten von Gewalt, die über unseren Familien eingebrochen ist, zueinander.
Mir wurde klar, dass jeder seine eigene persönliche, individuelle Geschichte hat, die erzählt werden muss – die Mehrheitsgesellschaft uns aber im Gegenzug alle »gleich« machte und immer noch macht. Ich muss jetzt kurz an meinen Freund Ilker Çatak denken und seinen Satz: »Sandra Hüller, Wim Wenders und der Andere«. Ja, das ist mein Antrieb würde ich sagen.
Ich denke nicht mehr über ein Publikum nach, sondern nur über den Menschen, den ich vorfinde und über den ich erzählen will. Je genauer es mir gelingt, diesen individuellen Menschen, diese eine Geschichte zu erzählen, weiß ich, dass es sein Publikum findet. Losgelöst von ethnischen, religiösen, sozialen Zuschreibungen. Somit gelang es mir, mich aus diesen Schubladen zu lösen, keine Grenzen zu kennen und mich klar »nicht« einordnen zu lassen. Insofern schreibe ich nicht für ein Publikum, sondern vielleicht gegen das gängige Publikum, gegen ein gängiges Narrativ. Gegen ein voreingenommenes, gegen ein kategorisierendes, das gängigen Mustern und Narrativen folgt, gegen Klischees, ihre und meine eigenen. Gegen Ungerechtigkeit, gegen das Vergessen, gegen die eigene Community. Gegen die Tabuisierung. Du hast recht, der europäische Kanon ist uns, mir in die Hände gefallen. Wir konnten es uns nicht aussuchen. Ich bediene mich an diesem Kanon und beziehe Stellung gegen das Muster einer Gesellschaft, das von mir eine Art Unterwerfung einfordert. Ich versuche den Gedanken des Erbes auszudehnen, zu erweitern. Ich bestehe auf mein Recht, auch dieses Erbe einzufordern. Ich sehe mich mit meiner Kunst in einer Art Widerstand: Ich wehre mich gegen Stimmen, die mir aufgrund meiner sozialen und ethnischen Herkunft die ästhetische Stimme absprechen und sie nicht anerkennen.
Lieben Gruß, Nuran
»Leaks. Von Mölln bis Hanau« heißt Nuran David Calis' neues Stück, das am 14. Dezember 2024 in den Kammerspielen uraufgeführt wird.