Körpersprache und Sprachkörper machen Vergangenheit lebendig
von Andrea Stoll
Die österreichische Schriftstellerin Ingeborg Bachmann (1926–1973) war überzeugt, dass alles Entscheidende im Leben eines Menschen in der Kindheit passiert. »Was später dazukommt, was man für viel interessanter hält, bringt seltsamerweise fast nichts ein.«
Es sind die frühen Erfahrungen, die sich in unsere Körper einschreiben und unserem Leben eine Richtung weisen. Dieses Einschreiben kann persönliche Stärke und Resilienz begründen, es kann uns auch verwundbarer machen und unseren Blick auf die Welt für immer von anderen Menschen unterscheiden.
»Die Kinder haben keine Zukunft. Sie fürchten sich vor der ganzen Welt. Sie machen sich kein Bild von ihr, nur von dem Hüben und Drüben, denn es lässt sich mit Kreidestrichen begrenzen. Sie hüpfen auf einem Bein in die Hölle und springen mit beiden Beinen in den Himmel.« (Jugend in einer österreichischen Stadt)
Es scheint eine überschaubare Welt zu sein: die schmale Henselstraße in Klagenfurt, in der die Familie Bachmann 1933 ein biedermeierliches Reihenhäuschen bezieht. Doch die rosenumrankte Häuserzeile des Bachmannschen Familienlebens liegt nur eine Straße breit von der gegenüberliegenden Klagenfurter Kaserne entfernt. Bachmanns erzählerische Skizze des Hüpfspiels, in der sich eine namenlose Angst über die Lust an der Bewegung legt und die erinnerte Kinderszene wie unter Schock einfriert, gewinnt vor diesem Wissen ihre historische Schärfe. Tatsächlich liegen Himmel und Hölle in dieser Kindheitswelt näher beieinander, als es Autorin und Werk auf den ersten Blick preisgeben. Bachmann umreißt mit dieser Polarität von Rettung und Martyrium den prägenden Mikrokosmos ihrer Kindheit, der ihrem Schreiben unauslöschliche Spuren einschreiben wird. Zwischen familiärem Idyll und militärischer Männlichkeit scheinen sowohl Körper wie Sprache des Mädchens sehr reglementiert gewesen zu sein. Der Kinderhimmel der freien Bewegung hatte gegen Anordnungen zum Stillestehen kaum eine Chance. Weitere Appelle zum Leisesein werden Ingeborg und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Isolde so vehement eingetrichtert, bis beide »sich das Flüstern nicht mehr abgewöhnen in diesem Leben«. Alleine vor die Tür gehen dürfen sie kaum, Straßenspiele wie Gummitwist oder eben »Himmel und Hölle« scheinen schon das Höchstmaß der Freiheitserfahrung gewesen zu sein. Mit dem »Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt«, wird Bachmanns Kindheit endgültig »zertrümmert«. »Es war etwas so Entsetzliches, daß mit diesem Tag meine Erinnerung anfängt: durch einen zu frühen Schmerz, wie ich ihn in dieser Stärke vielleicht später überhaupt nie mehr hatte.« Was Bachmann hier formuliert ist eine Art Urschmerz, der allen körperlichen Schmerzerfahrungen, die sie im Laufe ihres Lebens erleiden wird, zugrunde liegt. Aus der Traumaforschung wissen wir, dass Schmerz nicht nur akut fühlbar, sondern auch als Erinnerungsspur dem Körper wie der Psyche eingeschrieben werden kann. Das so grundgelegte Schmerzmuster wird zu einem anarchisch auftretenden Element der Körpersprache, das immer und überall wieder hervortreten und ein variables Spektrum von Symptomen hervorrufen kann, die in Stress-, Angst- und Schmerzsituationen zum Ausdruck kommen.
Die auch in Österreich seit dem Anschluss an Hitler-Deutschland 1938 offen zutage tretende Gewalterfahrung des Faschismus verdichtet Bachmann in ihrer Lyrik und Prosa zu einem gesellschaftlichen Strukturmoment, das nicht nur in Zeiten des Krieges virulent, sondern latent im Menschen selbst angelegt ist. Das autobiografische Schmerzzentrum dieser Erkenntnis liegt in der Tatsache, dass ihr innig geliebter Vater, der Volksschullehrer Matthias Bachmann, der es als armer Bauernbub mit viel Fleiß und Entbehrung zum Ermöglicher des kleinbürgerlichen Familienidylls in der Henselstraße geschafft hatte, eben auch zu den frühesten Unterstützern der nationalsozialistischen Partei in Österreich gehörte und ihr bereits 1932 – also noch zu der Zeit ihres offiziellen Verbots – mit entsprechend früher Mitgliedsnummer beigetreten war. Wie so viele andere Nationalsozialisten auch dürfte ihn die Aussicht auf wirtschaftliche Vergünstigungen gelockt, der Erwerb des kleinen Familienhimmels gar durch Kredite direkt aus der Hölle finanziert worden sein.
Es sind die frühen Erfahrungen, die sich in unsere Körper einschreiben und unserem Leben eine Richtung weisen. Dieses Einschreiben kann persönliche Stärke und Resilienz begründen, es kann uns auch verwundbarer machen und unseren Blick auf die Welt für immer von anderen Menschen unterscheiden.
»Die Kinder haben keine Zukunft. Sie fürchten sich vor der ganzen Welt. Sie machen sich kein Bild von ihr, nur von dem Hüben und Drüben, denn es lässt sich mit Kreidestrichen begrenzen. Sie hüpfen auf einem Bein in die Hölle und springen mit beiden Beinen in den Himmel.« (Jugend in einer österreichischen Stadt)
Es scheint eine überschaubare Welt zu sein: die schmale Henselstraße in Klagenfurt, in der die Familie Bachmann 1933 ein biedermeierliches Reihenhäuschen bezieht. Doch die rosenumrankte Häuserzeile des Bachmannschen Familienlebens liegt nur eine Straße breit von der gegenüberliegenden Klagenfurter Kaserne entfernt. Bachmanns erzählerische Skizze des Hüpfspiels, in der sich eine namenlose Angst über die Lust an der Bewegung legt und die erinnerte Kinderszene wie unter Schock einfriert, gewinnt vor diesem Wissen ihre historische Schärfe. Tatsächlich liegen Himmel und Hölle in dieser Kindheitswelt näher beieinander, als es Autorin und Werk auf den ersten Blick preisgeben. Bachmann umreißt mit dieser Polarität von Rettung und Martyrium den prägenden Mikrokosmos ihrer Kindheit, der ihrem Schreiben unauslöschliche Spuren einschreiben wird. Zwischen familiärem Idyll und militärischer Männlichkeit scheinen sowohl Körper wie Sprache des Mädchens sehr reglementiert gewesen zu sein. Der Kinderhimmel der freien Bewegung hatte gegen Anordnungen zum Stillestehen kaum eine Chance. Weitere Appelle zum Leisesein werden Ingeborg und ihrer zwei Jahre jüngeren Schwester Isolde so vehement eingetrichtert, bis beide »sich das Flüstern nicht mehr abgewöhnen in diesem Leben«. Alleine vor die Tür gehen dürfen sie kaum, Straßenspiele wie Gummitwist oder eben »Himmel und Hölle« scheinen schon das Höchstmaß der Freiheitserfahrung gewesen zu sein. Mit dem »Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt«, wird Bachmanns Kindheit endgültig »zertrümmert«. »Es war etwas so Entsetzliches, daß mit diesem Tag meine Erinnerung anfängt: durch einen zu frühen Schmerz, wie ich ihn in dieser Stärke vielleicht später überhaupt nie mehr hatte.« Was Bachmann hier formuliert ist eine Art Urschmerz, der allen körperlichen Schmerzerfahrungen, die sie im Laufe ihres Lebens erleiden wird, zugrunde liegt. Aus der Traumaforschung wissen wir, dass Schmerz nicht nur akut fühlbar, sondern auch als Erinnerungsspur dem Körper wie der Psyche eingeschrieben werden kann. Das so grundgelegte Schmerzmuster wird zu einem anarchisch auftretenden Element der Körpersprache, das immer und überall wieder hervortreten und ein variables Spektrum von Symptomen hervorrufen kann, die in Stress-, Angst- und Schmerzsituationen zum Ausdruck kommen.
Die auch in Österreich seit dem Anschluss an Hitler-Deutschland 1938 offen zutage tretende Gewalterfahrung des Faschismus verdichtet Bachmann in ihrer Lyrik und Prosa zu einem gesellschaftlichen Strukturmoment, das nicht nur in Zeiten des Krieges virulent, sondern latent im Menschen selbst angelegt ist. Das autobiografische Schmerzzentrum dieser Erkenntnis liegt in der Tatsache, dass ihr innig geliebter Vater, der Volksschullehrer Matthias Bachmann, der es als armer Bauernbub mit viel Fleiß und Entbehrung zum Ermöglicher des kleinbürgerlichen Familienidylls in der Henselstraße geschafft hatte, eben auch zu den frühesten Unterstützern der nationalsozialistischen Partei in Österreich gehörte und ihr bereits 1932 – also noch zu der Zeit ihres offiziellen Verbots – mit entsprechend früher Mitgliedsnummer beigetreten war. Wie so viele andere Nationalsozialisten auch dürfte ihn die Aussicht auf wirtschaftliche Vergünstigungen gelockt, der Erwerb des kleinen Familienhimmels gar durch Kredite direkt aus der Hölle finanziert worden sein.
Mit dem »Einmarsch von Hitlers Truppen in Klagenfurt«, wird Bachmanns Kindheit endgültig »zertrümmert«.
Himmel und Hölle verdichten sich so zu einem körpersprachlichen Bild von poetischer Sprengkraft. Die kleine Szene des hüpfenden Kindes, dem die Angst in den Knochen sitzt, obwohl doch alles noch Unschuld und freies kindliches Spiel sein sollte, erweist sich als paradigmatisch für Bachmanns Texte, in denen die Erfahrung einer körpersprachlichen Erschütterung als Strukturmerkmal in die Sprachkörper selbst eingehen.
Mit dem Aufbrechen traditioneller Motive und dem Aufsplittern hermeneutischer Zusammenhänge verknüpfen ihre Sprachkörper subjektive Erinnerung und kollektive Gewalterfahrung. Es ist die Körpersprache des traumatisierten Individuums, die den Texten jene Schmerzerfahrung einschreibt, die wir von Bachmanns erstem Gedichtband Die gestundete Zeit (1953) bis in den einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten Roman Malina (1971), vor allem aber dem großen Konvolut der aus dem Nachlass überlieferten Todesarten – Prosa entdecken können.
Wenn wir uns Bachmanns Leben auf der Theaterbühne denken, dann müssen wir der Spur dieser Körpersprache nachgehen, in der jede Einheit zerbrochen und jeder Hoffnung von Anfang an ein Abgrund gegenübergestellt ist. »Zwei Menschen sind in mir, einer versteht den anderen nicht«, wird sie schon als junges Mädchen sagen und diesem Riss sowohl in ihrem Leben als auch in ihren Texten nachspüren. Die namenlose Angst des hüpfenden Kindes, das zum Schweigen gebrachte Mädchen, hat als erwachsene Autorin ein poetisches Feuerwerk entfacht, das aus der Vergegenwärtigung der Erinnerung seine seismographische Qualität für die Gegenwart gewinnt. Angst lähmt. Der Sprung über Grenzen setzt Kräfte frei. Himmel und Hölle sind enger miteinander verbunden als wir wahrhaben wollen.
»Zwei Menschen sind in mir, einer versteht den anderen nicht«, heißt Andrea Stolls Theaterstück über das Leben und Werk von Ingeborg Bachmann, das am 24. April 2026 in der Inszenierung von Ella Haid-Schmallenberg als Uraufführung auf die Bühne der Kammerspiele kommt.
Die 1960 bei Frankfurt am Main geborene Autorin und mehrfach preisgekrönte Drehbuchautorin, Dr. phil. Andrea Stoll, hat in Wien und Mainz Germanistik, Philosophie und Publizistik studiert und mit einer Arbeit über Ingeborg Bachmann promoviert. Ihr Werk umfasst zahlreiche Bücher, Essays und Drehbücher für TV- und Kinofilme. Darüber hinaus war sie fünfzehn Jahre als Dozentin für Literatur und Drehbuchentwicklung an der Universität Salzburg tätig. Der von ihr 2008 initiierte und mit herausgegebene Briefwechsel Herzzeit zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan ist ein internationaler Bestseller und liegt in über zehn Sprachen vor. Sie hat verschiedene Bücher zu Ingeborg Bachmann publiziert und wird anlässlich des 100. Geburtstages 2026 eine neue Biografie im Piper Verlag veröffentlichen.
Quellen: Ingeborg Bachmann: Interview mit Veit Mölter am 23. März 1971. Gespräche und Interviews, München 1983. S. 79. Ingeborg Bachmann (1926–1973): Jugend in einer österreichischen Stadt. Erstveröffentlichung 1959. Als Erzählung enthalten in dem Band Das Dreißigste Jahr, München 1961. Ingeborg Bachmann: Interview mit Gerda Bödefeld am 24. Dezember 1971. Gespräche und Interviews, München 1983. S. 111
Mit dem Aufbrechen traditioneller Motive und dem Aufsplittern hermeneutischer Zusammenhänge verknüpfen ihre Sprachkörper subjektive Erinnerung und kollektive Gewalterfahrung. Es ist die Körpersprache des traumatisierten Individuums, die den Texten jene Schmerzerfahrung einschreibt, die wir von Bachmanns erstem Gedichtband Die gestundete Zeit (1953) bis in den einzigen zu Lebzeiten veröffentlichten Roman Malina (1971), vor allem aber dem großen Konvolut der aus dem Nachlass überlieferten Todesarten – Prosa entdecken können.
Wenn wir uns Bachmanns Leben auf der Theaterbühne denken, dann müssen wir der Spur dieser Körpersprache nachgehen, in der jede Einheit zerbrochen und jeder Hoffnung von Anfang an ein Abgrund gegenübergestellt ist. »Zwei Menschen sind in mir, einer versteht den anderen nicht«, wird sie schon als junges Mädchen sagen und diesem Riss sowohl in ihrem Leben als auch in ihren Texten nachspüren. Die namenlose Angst des hüpfenden Kindes, das zum Schweigen gebrachte Mädchen, hat als erwachsene Autorin ein poetisches Feuerwerk entfacht, das aus der Vergegenwärtigung der Erinnerung seine seismographische Qualität für die Gegenwart gewinnt. Angst lähmt. Der Sprung über Grenzen setzt Kräfte frei. Himmel und Hölle sind enger miteinander verbunden als wir wahrhaben wollen.
»Zwei Menschen sind in mir, einer versteht den anderen nicht«, heißt Andrea Stolls Theaterstück über das Leben und Werk von Ingeborg Bachmann, das am 24. April 2026 in der Inszenierung von Ella Haid-Schmallenberg als Uraufführung auf die Bühne der Kammerspiele kommt.
Die 1960 bei Frankfurt am Main geborene Autorin und mehrfach preisgekrönte Drehbuchautorin, Dr. phil. Andrea Stoll, hat in Wien und Mainz Germanistik, Philosophie und Publizistik studiert und mit einer Arbeit über Ingeborg Bachmann promoviert. Ihr Werk umfasst zahlreiche Bücher, Essays und Drehbücher für TV- und Kinofilme. Darüber hinaus war sie fünfzehn Jahre als Dozentin für Literatur und Drehbuchentwicklung an der Universität Salzburg tätig. Der von ihr 2008 initiierte und mit herausgegebene Briefwechsel Herzzeit zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan ist ein internationaler Bestseller und liegt in über zehn Sprachen vor. Sie hat verschiedene Bücher zu Ingeborg Bachmann publiziert und wird anlässlich des 100. Geburtstages 2026 eine neue Biografie im Piper Verlag veröffentlichen.
Quellen: Ingeborg Bachmann: Interview mit Veit Mölter am 23. März 1971. Gespräche und Interviews, München 1983. S. 79. Ingeborg Bachmann (1926–1973): Jugend in einer österreichischen Stadt. Erstveröffentlichung 1959. Als Erzählung enthalten in dem Band Das Dreißigste Jahr, München 1961. Ingeborg Bachmann: Interview mit Gerda Bödefeld am 24. Dezember 1971. Gespräche und Interviews, München 1983. S. 111