Wurzeln
(geschrieben für den Körper auf der Bühne)
(geschrieben für den Körper auf der Bühne)
von Anja Hilling
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Es ist ein paar Jahre her, dass ich einen Bericht gelesen hab, er kam aus den USA und ging um die Möglichkeit der Ent-Psychologisierung der Erziehung, ganz konkret um eine Erziehungsassistentin. Man kann sie sich einfach aufs Handy holen, von wo aus sie die Erziehungsberechtigten zu einer ständigen Selbst-Befragung auffordert. Ziel ist eine Neutralisierung der Erziehung, also jener Leute, die sie ausführen. Die Assistentin hilft den Leuten, ihre Kinder nicht mehr so sehr mit sich selbst zu belästigen, ihren Fehlern, Angewohnheiten, Ansprüchen etc. Das Furchteinflößende an dieser Assistentin schien mir ihr Glaube an das absolut Gute: Ohne euren Mist, da sind wir doch einer Meinung, können eure Kinder sehr viel leichter zu ihrer »Natur« oder sagen wir: ihr eigenes Ich finden.
Dieses »natürliche Ich«, da waren sich schon Rousseau und Montessori einig, verfügt über ein Potential, das die in der Familie angelegten Möglichkeiten weit, weit hinter sich lassen kann. Die Assistentin will nichts dafür, nur Vertrauen. Das Wissen, das sie sammelt, gibt sie millionenfach zurück in die Erziehung eines neuen Menschengeschlechts, das übrigens ganz nebenbei auch die Chancenungerechtigkeit überwunden haben wird.
Mitten in dieser Lektüre oder wahrscheinlich eher (ich weiß sowas nie genau) in der Zeit des Nachdenkens darüber, rief meine Mutter an. Sie wollte mir nur erzählen, sagte sie, dass ein Hund sie in die Hand gebissen habe, einer, den ich auch kenne, und sie beschrieb mir ihre Hand, die Stelle, wo jetzt ein Stück fehlte. Meine Überlegungen zu der Assistentin in dem Bericht waren ab diesem Moment mit der Stimme meiner Mutter am Telefon verbunden, und es hatte was Bestialisches, und es hatte von Anfang an mit Liebe zu tun, der Verteidigung von etwas Verworrenem.
Dieses »natürliche Ich«, da waren sich schon Rousseau und Montessori einig, verfügt über ein Potential, das die in der Familie angelegten Möglichkeiten weit, weit hinter sich lassen kann. Die Assistentin will nichts dafür, nur Vertrauen. Das Wissen, das sie sammelt, gibt sie millionenfach zurück in die Erziehung eines neuen Menschengeschlechts, das übrigens ganz nebenbei auch die Chancenungerechtigkeit überwunden haben wird.
Mitten in dieser Lektüre oder wahrscheinlich eher (ich weiß sowas nie genau) in der Zeit des Nachdenkens darüber, rief meine Mutter an. Sie wollte mir nur erzählen, sagte sie, dass ein Hund sie in die Hand gebissen habe, einer, den ich auch kenne, und sie beschrieb mir ihre Hand, die Stelle, wo jetzt ein Stück fehlte. Meine Überlegungen zu der Assistentin in dem Bericht waren ab diesem Moment mit der Stimme meiner Mutter am Telefon verbunden, und es hatte was Bestialisches, und es hatte von Anfang an mit Liebe zu tun, der Verteidigung von etwas Verworrenem.
Das Furchteinflößende an dieser Assistentin schien mir ihr Glaube an das absolut Gute.
Dies ist geschrieben für später, für den Moment auf der Bühne, dem ich zutraue, etwas zu verwirren, um es zu erhalten.
Es ist eine Aufforderung, dich für die Dunkelheit zu entscheiden. Für einen Körper, der aus dem Nichts überfallen wird von den Worten, Wortfetzen aus dem Keller der Psyche. Es ist eine Bitte, die Wahrheit wegzuwerfen und die Hinterfragung. Es ist eine Empfehlung für die Rhizosphäre, deine unterirdische Verwurzelung, die kein Zentrum hat, vor allem nicht dich, du bist überall, hast keine Mitte, bestehst aus Brüchen, Rissen, Abgründen, hängst an fast unsichtbaren Sehnen, hauchdünnen, unzerstörbaren Fasern, sie gehen in alle Richtungen, enden, wo sie wollen, um irgendwo, einfach so, wieder zu beginnen und deinem kleinen, ratlosen Ich nur eine Reaktion lassen: Die Explosion.
Es ist ein Ja zur unbändigen Gebundenheit, zu den Ticks, den Macken, den Panikattacken, den nie überwundenen Mustern, Gesten, eine Reanimation der kopierten Gesichtsausdrücke, der ätzenden Glaubenssätze, die du raushaust als wär der Blödsinn aus dir selbst geboren. Es ist ein Loblied auf den Blödsinn deiner Leute und derer, dessen Blödsinn sie übernommen haben und auf all die Stunden, Jahre, Jahrhunderte, das Zeug loszuwerden, und es doch überall zu finden, in der Art, wie du deine Lippen bewegst während du einen Text liest über den Körper auf der Bühne, oder in dem Gefühl, zu fallen, weil du fünf Minuten vor einem Auftritt dein Gesicht berührst und dort etwas wiederfindest von einer Frau, die du nur von einem Schwarz-Weiß-Foto kennst.
Es ist ein Absturz in eine Tiefe, die du kennst aus einer Zeit vor deiner Geburt, es ist nicht ok, nie ok, es ist eine Hymne auf das nutzlose Gefasel in den Therapien, auf die in dir gestapelten und gespiegelten und gesplitterten Gesichter, auf die Symptome der Herkunft, das Zittern und die Zweifel und die Todesangst. Es ist ein Versuch, zu verzeihen, denen, die dich durchgebracht haben, irgendwie halt, ein Versuch, sie zu sehen, durch den dunklen, wabernden, unverstandenen Kloß der Zeit. Es ist ein Nein zum wunderbaren Loslassen, zur Neutralität und dem in der Luft wurzelnden Lächeln, ein Halts Maul Liberty, ein Schrei danach, abhängig zu sein, rettungslos verwoben und verloren in Anderen.
Es ist eine Aufforderung, dich für die Dunkelheit zu entscheiden. Für einen Körper, der aus dem Nichts überfallen wird von den Worten, Wortfetzen aus dem Keller der Psyche. Es ist eine Bitte, die Wahrheit wegzuwerfen und die Hinterfragung. Es ist eine Empfehlung für die Rhizosphäre, deine unterirdische Verwurzelung, die kein Zentrum hat, vor allem nicht dich, du bist überall, hast keine Mitte, bestehst aus Brüchen, Rissen, Abgründen, hängst an fast unsichtbaren Sehnen, hauchdünnen, unzerstörbaren Fasern, sie gehen in alle Richtungen, enden, wo sie wollen, um irgendwo, einfach so, wieder zu beginnen und deinem kleinen, ratlosen Ich nur eine Reaktion lassen: Die Explosion.
Es ist ein Ja zur unbändigen Gebundenheit, zu den Ticks, den Macken, den Panikattacken, den nie überwundenen Mustern, Gesten, eine Reanimation der kopierten Gesichtsausdrücke, der ätzenden Glaubenssätze, die du raushaust als wär der Blödsinn aus dir selbst geboren. Es ist ein Loblied auf den Blödsinn deiner Leute und derer, dessen Blödsinn sie übernommen haben und auf all die Stunden, Jahre, Jahrhunderte, das Zeug loszuwerden, und es doch überall zu finden, in der Art, wie du deine Lippen bewegst während du einen Text liest über den Körper auf der Bühne, oder in dem Gefühl, zu fallen, weil du fünf Minuten vor einem Auftritt dein Gesicht berührst und dort etwas wiederfindest von einer Frau, die du nur von einem Schwarz-Weiß-Foto kennst.
Es ist ein Absturz in eine Tiefe, die du kennst aus einer Zeit vor deiner Geburt, es ist nicht ok, nie ok, es ist eine Hymne auf das nutzlose Gefasel in den Therapien, auf die in dir gestapelten und gespiegelten und gesplitterten Gesichter, auf die Symptome der Herkunft, das Zittern und die Zweifel und die Todesangst. Es ist ein Versuch, zu verzeihen, denen, die dich durchgebracht haben, irgendwie halt, ein Versuch, sie zu sehen, durch den dunklen, wabernden, unverstandenen Kloß der Zeit. Es ist ein Nein zum wunderbaren Loslassen, zur Neutralität und dem in der Luft wurzelnden Lächeln, ein Halts Maul Liberty, ein Schrei danach, abhängig zu sein, rettungslos verwoben und verloren in Anderen.
Es ist eine Aufforderung, dich für die Dunkelheit zu entscheiden. Für einen Körper, der aus dem Nichts überfallen wird von den Worten, Wortfetzen aus dem Keller der Psyche.
Dies ist geschrieben für den Körper auf der Bühne, denn du hast es noch, diese wahnsinnige und wahnsinnig schöne Verworrenheit, so verrückt und unverrückbar gebunden an einen Raum, seine Enge, gebunden an dich selbst, an den Körper deiner Geschichte, ihrer Linien, Muster, Verwirrungen, gebunden an den Körper der Figur, ihrer Geschichte, Dunkelheiten, an die Temperatur unerklärlicher Zusammenhänge, gebunden an den Wunsch, am Leben zu bleiben, egal wie erbärmlich, unerlöst und zerfressen wir uns aufführen, gebunden an den Körper der Regie, der Dramaturgie, der Gewerke, an die Geschichte ihrer Blicke, Blickwinkel, gebunden an den Körper der Stille, des Krachs und an die plötzliche Magie eines Lichtausfalls, gebunden an den Körper des Texts, an mich, meine Fehler, Entgleisungen, mein Erstaunen, wenn ich etwas wiederfinde aus einem Traum vom letzten Winter in der Art, wie du die Stimme senkst am Ende eines Satzes, der als Frage geschrieben stand.
Es ist nichts, nur der Wunsch, uns weiter beeinflussen zu können auf diese unlösbare Weise.
Bis später,
Anja
Anja Hillings neues Stück »Spiel des Schwebens« kommt in der Inszenierung von Christina Tscharyiski am 10. Oktober 2025 in den Kammerspielen als Uraufführung auf die Bühne.
Es ist nichts, nur der Wunsch, uns weiter beeinflussen zu können auf diese unlösbare Weise.
Bis später,
Anja
Anja Hillings neues Stück »Spiel des Schwebens« kommt in der Inszenierung von Christina Tscharyiski am 10. Oktober 2025 in den Kammerspielen als Uraufführung auf die Bühne.