Das einzige Wort im Wörterbuch
von Roy Chen
Der Krieg brach am 7. Oktober 2023 aus, und zwei Tage später fotografierte ich unsere Wohnung, damit wir etwas zur Erinnerung hätten, denn ich war davon überzeugt, dass die Welt, wie ich sie kannte, einstürzen würde. Die Wohnung steht noch, aber ich habe mich nicht geirrt, die Welt, die ich kannte, ist eingestürzt.
Ich habe die Nische fotografiert, in der ich schreibe, den Haufen Kleider im Zimmer meines Sohns, die Modelle, die meine Frau für das Bühnenbild gebaut hat, an dem sie arbeitet, meinen geliebten Wasserkocher, sogar die Risse in den Wänden. Ich blickte durch das iPhone-Display auf die Bücherregale und dachte zum ersten Mal in meinem Leben – Kindle. All diese Bücher, die mir beinahe heilig gewesen sind, erschienen in meinen Augen überflüssig. Von all den Schriftsteller:innen hätte ich nur Etty Hillesum behalten. Und Primo Levi. Und Warlam Schalamow. Und Jeschajahu Leibowitz. Und Mahmud Darwisch. Ah, ja, Kafka – aber nur die Tagebücher! Gut, vielleicht noch ein paar, aber nur diejenigen, die die Wahrheit geschrieben haben. Alle, die sich was ausdenken – in den Müll, und mich als ersten unter ihnen.
Wie ist es jetzt möglich, sich hinzusetzen und einen Roman zu schreiben? Und in der Tat habe ich mit der Prosa aufgehört. Komplett. Schreibblockade? Viel mehr als das … Ich konnte nur für das Theater schreiben, meinen Schutzraum, mein atheistisches Gebetshaus.
Pu der Bär kam in meiner neuen Übersetzung ein Jahr vor Kriegsausbruch als Buch heraus, dann machte ich daraus ein Kindertheaterstück, aber weggelassen habe ich die Szene, in der Pu und seine Freunde Kängas Baby Klein-Ruh entführen, um sie aus dem Wald zu vertreiben. Nichts ist mehr unschuldig.
Im Livestream habe ich eine 84-jährige Frau gesehen, die Großmutter eines Schauspielers, den ich kenne, wie sie auf einem E-Scooter nach Gaza entführt wurde. Die Tochter eines Freunds der Familie wurde auf dem Nova-Musikfestival ermordet, sie haben ihre Leiche geschändet und das gefilmt, ihr Vater schrieb auf Facebook: »Wir werden nicht aufhören zu tanzen«, aber er hörte auf zu arbeiten und verließ die Wohnung nicht mehr.
Ich habe die Nische fotografiert, in der ich schreibe, den Haufen Kleider im Zimmer meines Sohns, die Modelle, die meine Frau für das Bühnenbild gebaut hat, an dem sie arbeitet, meinen geliebten Wasserkocher, sogar die Risse in den Wänden. Ich blickte durch das iPhone-Display auf die Bücherregale und dachte zum ersten Mal in meinem Leben – Kindle. All diese Bücher, die mir beinahe heilig gewesen sind, erschienen in meinen Augen überflüssig. Von all den Schriftsteller:innen hätte ich nur Etty Hillesum behalten. Und Primo Levi. Und Warlam Schalamow. Und Jeschajahu Leibowitz. Und Mahmud Darwisch. Ah, ja, Kafka – aber nur die Tagebücher! Gut, vielleicht noch ein paar, aber nur diejenigen, die die Wahrheit geschrieben haben. Alle, die sich was ausdenken – in den Müll, und mich als ersten unter ihnen.
Wie ist es jetzt möglich, sich hinzusetzen und einen Roman zu schreiben? Und in der Tat habe ich mit der Prosa aufgehört. Komplett. Schreibblockade? Viel mehr als das … Ich konnte nur für das Theater schreiben, meinen Schutzraum, mein atheistisches Gebetshaus.
Pu der Bär kam in meiner neuen Übersetzung ein Jahr vor Kriegsausbruch als Buch heraus, dann machte ich daraus ein Kindertheaterstück, aber weggelassen habe ich die Szene, in der Pu und seine Freunde Kängas Baby Klein-Ruh entführen, um sie aus dem Wald zu vertreiben. Nichts ist mehr unschuldig.
Im Livestream habe ich eine 84-jährige Frau gesehen, die Großmutter eines Schauspielers, den ich kenne, wie sie auf einem E-Scooter nach Gaza entführt wurde. Die Tochter eines Freunds der Familie wurde auf dem Nova-Musikfestival ermordet, sie haben ihre Leiche geschändet und das gefilmt, ihr Vater schrieb auf Facebook: »Wir werden nicht aufhören zu tanzen«, aber er hörte auf zu arbeiten und verließ die Wohnung nicht mehr.
Ich konnte nur für das Theater schreiben, meinen Schutzraum, mein atheistisches Gebetshaus.
Eine furchtbare Überlebensschuld quälte mich. Warum wurde seine Tochter ermordet und mein Sohn lebt? Warum wurde ihr Vater entführt und mein Vater ist zuhause? Ich sah die Nachrichten wie ein besonders grausames Reality-TV-Programm, und dann riss der Premierminister, gegen den ich regelmäßig demonstriere, das Land mit sich in eine schreckliche militärische Reaktion, bei der auch die israelischen Geiseln gefährdet und getötet wurden. Noch immer werden in Gaza schreckliche Verbrechen im Namen der israelischen Bürger:innen begangen. In meinem Namen. Jeden Samstag gehe ich zu den Demonstrationen gegen den Krieg, manchmal sind wir ein paar Hundert und manchmal eine halbe Million, aber auch dann fühlt es sich nicht genug an. Ein Freund versucht, mich zu beruhigen – »Das ist nicht nur bei uns so, die ganze Welt geht den Bach runter, die Diktatur ist wieder in Mode, der dritte Weltkrieg steht vor der Tür«.
Ich wurde still. Beinahe stumm. Überhaupt nicht typisch für einen lauten Typen wie mich. Meine Seele erstarrte in meinem Körper, als habe sie Angst, zu laut zu sein, weil jedes Geräusch zum absoluten Zerbrechen führen könnte, von dem es kein Zurück mehr gibt.
Ich fuhr mit meiner Frau und meinem Sohn zu meinen Eltern, dort gibt es einen Schutzraum gegen Raketen. In einer Nacht im April 2024 wurden aus dem Iran 130 ballistische Raketen sowie 26 Marschflugkörper und 185 Drohnen abgefeuert. Eine Sirene jagte die nächste und wir alle rannten in den Schutzraum, außer meinem Vater. Er blieb rauchend vor dem Fernseher sitzen, »es steht alles geschrieben«, sagte er, ein arabischer Ausdruck, der bedeutet: Alles wurde bereits im Himmel beschlossen.
Meine Vorfahren wurden 1492 aus Spanien vertrieben. Kolumbus landete im selben Jahr in Amerika, und sie – im Heiligen Land. Sie lebten nachbarschaftlich in Frieden mit den Bewohner:innen dieses Landes, mein Urgroßvater sprach ein makelloses Arabisch und arbeitete als Übersetzer. Vielleicht habe ich die Liebe zu Sprachen von ihm. Meine Wurzeln reichen tief in diesen Boden, aber immer bin ich der Überzeugung gewesen, dass kein Stückchen Erde auch nur einen Tropfen Blut wert ist und kein Stein heiliger als das Leben eines Menschen und dass alle Menschen verschieden, aber gleich sind. Nach ein paar Mal Raketenalarm sage ich zu meiner Frau – »Lass uns nach Hause gehen, in unsere ungeschützte Wohnung, denn die Tatsache, dass Verwandte uns eine Knochenmarkspende geben können, bedeutet nicht, dass man Lust hat, Tage und Nächte in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Und keine Rakete macht mir mehr Angst als die Vorstellung, wieder bei den Eltern zu wohnen.«
Ich wurde still. Beinahe stumm. Überhaupt nicht typisch für einen lauten Typen wie mich. Meine Seele erstarrte in meinem Körper, als habe sie Angst, zu laut zu sein, weil jedes Geräusch zum absoluten Zerbrechen führen könnte, von dem es kein Zurück mehr gibt.
Ich fuhr mit meiner Frau und meinem Sohn zu meinen Eltern, dort gibt es einen Schutzraum gegen Raketen. In einer Nacht im April 2024 wurden aus dem Iran 130 ballistische Raketen sowie 26 Marschflugkörper und 185 Drohnen abgefeuert. Eine Sirene jagte die nächste und wir alle rannten in den Schutzraum, außer meinem Vater. Er blieb rauchend vor dem Fernseher sitzen, »es steht alles geschrieben«, sagte er, ein arabischer Ausdruck, der bedeutet: Alles wurde bereits im Himmel beschlossen.
Meine Vorfahren wurden 1492 aus Spanien vertrieben. Kolumbus landete im selben Jahr in Amerika, und sie – im Heiligen Land. Sie lebten nachbarschaftlich in Frieden mit den Bewohner:innen dieses Landes, mein Urgroßvater sprach ein makelloses Arabisch und arbeitete als Übersetzer. Vielleicht habe ich die Liebe zu Sprachen von ihm. Meine Wurzeln reichen tief in diesen Boden, aber immer bin ich der Überzeugung gewesen, dass kein Stückchen Erde auch nur einen Tropfen Blut wert ist und kein Stein heiliger als das Leben eines Menschen und dass alle Menschen verschieden, aber gleich sind. Nach ein paar Mal Raketenalarm sage ich zu meiner Frau – »Lass uns nach Hause gehen, in unsere ungeschützte Wohnung, denn die Tatsache, dass Verwandte uns eine Knochenmarkspende geben können, bedeutet nicht, dass man Lust hat, Tage und Nächte in ihrer Gesellschaft zu verbringen. Und keine Rakete macht mir mehr Angst als die Vorstellung, wieder bei den Eltern zu wohnen.«
Meine Seele erstarrte in meinem Körper, als habe sie Angst, zu laut zu sein, weil jedes Geräusch zum absoluten Zerbrechen führen könnte, von dem es kein Zurück mehr gibt.
Ich bin wieder in der Wohnung aufgewacht, von der ich dachte, ich würde sie nicht wiedersehen, wie im Bühnenbild eines Biopics über mich auf einem Sender, den niemand schaut. Es gibt Tage, an denen ich aufwache und mich als Weltbürger fühle, frei von jeder Nation, durstig nach Wissen, manchmal wache ich als Tel-Aviver auf, voller Energie und Optimismus, manchmal allerdings als wandernder Jude, Angehöriger einer Minderheit, der gewillt ist, jeden Ort, der bereit ist, ihn aufzunehmen, sein Zuhause zu nennen, und es gibt auch Tage, an denen ich antisemitisch aufwache, ja, ja, einer der typischen Charakterzüge des modernen, liberalen Intellektuellen ist der Selbsthass. Lesen Sie Michel Houellebecq.
Die Kunst, nur sie wird mich retten, das habe ich verstanden. Niemand kontrolliert einen Pass beim Eintritt in ein Buch. Aber es stellt sich heraus, dass auch das nicht so ganz stimmt. Mit dem kulturellen Boykott, der zuallererst Kulturschaffende trifft, die zumeist liberal sind, Gegner der Regierung, die versuchen, Brücken zwischen den Kulturen und den Völkern zu bauen.
Ja, ich habe festgestellt, so sehr ich auch versuche, ein Weltbürger zu sein, immer wird jemand kommen, der meine Nase vermessen möchte oder … ein anderes Körperteil, und dann wird er mir erzählen: »Hitler hat den Job nicht zu Ende gebracht«. Und dennoch – ich weigere mich, zu verzweifeln. Das ist wahrscheinlich der Seite meiner Mutter zu verdanken, die aus Marokko nach Israel kam und meiner DNA viel Vitamin D und scharfe Gewürze injiziert hat.
»Die Vergangenheit ist nicht tot«, schrieb Christa Wolf, absolut. Eigentlich ist die Vergangenheit lebendiger als die Zukunft. Von der Zukunft wissen wir nichts, die Vergangenheit hingegen – füllt alle Schubladen in uns bis zum Zerbersten an. In der Zukunft kennen wir niemanden, sie ist voller fremder Babys, die noch nicht geboren wurden, Katastrophen, die noch nicht geschehen sind, und persönlich betrachtet – Altern, sich täglich dem Grab zu nähern, die Vergangenheit hingegen ist voller Verwandter – Homer, Hiob, Gogol, Salinger, John Lennon … Solche Tote sind lebendiger als alle, die derzeit die Erdoberfläche bevölkern, denn sie sind beinahe unsterblich.
Die Kunst, nur sie wird mich retten, das habe ich verstanden. Niemand kontrolliert einen Pass beim Eintritt in ein Buch. Aber es stellt sich heraus, dass auch das nicht so ganz stimmt. Mit dem kulturellen Boykott, der zuallererst Kulturschaffende trifft, die zumeist liberal sind, Gegner der Regierung, die versuchen, Brücken zwischen den Kulturen und den Völkern zu bauen.
Ja, ich habe festgestellt, so sehr ich auch versuche, ein Weltbürger zu sein, immer wird jemand kommen, der meine Nase vermessen möchte oder … ein anderes Körperteil, und dann wird er mir erzählen: »Hitler hat den Job nicht zu Ende gebracht«. Und dennoch – ich weigere mich, zu verzweifeln. Das ist wahrscheinlich der Seite meiner Mutter zu verdanken, die aus Marokko nach Israel kam und meiner DNA viel Vitamin D und scharfe Gewürze injiziert hat.
»Die Vergangenheit ist nicht tot«, schrieb Christa Wolf, absolut. Eigentlich ist die Vergangenheit lebendiger als die Zukunft. Von der Zukunft wissen wir nichts, die Vergangenheit hingegen – füllt alle Schubladen in uns bis zum Zerbersten an. In der Zukunft kennen wir niemanden, sie ist voller fremder Babys, die noch nicht geboren wurden, Katastrophen, die noch nicht geschehen sind, und persönlich betrachtet – Altern, sich täglich dem Grab zu nähern, die Vergangenheit hingegen ist voller Verwandter – Homer, Hiob, Gogol, Salinger, John Lennon … Solche Tote sind lebendiger als alle, die derzeit die Erdoberfläche bevölkern, denn sie sind beinahe unsterblich.
Die Kunst, nur sie wird mich retten, das habe ich verstanden.
Doch es gibt eine Sache an der Zukunft, die sympathisch ist, der Überraschungsfaktor. Und die Geschichte lehrt uns, dass trotz der furchtbaren Dinge, welche die Menschheit begeht, gute Menschen noch nicht von der Erde verschwunden sind. Solche, die vom Schönen und Guten angezogen sind, neugierige Menschen, die bereit sind, etwas zu wagen und über all die alten Ansichten hinweg zu gleiten, die ihnen von Kindheit an in die Köpfe gepflanzt wurden. Der Schlüssel zu diesem Gleiten liegt in einem einfachen Wort verborgen.
Wenn ich alle Wörter aus dem Wörterbuch streichen müsste und nur eines übrig lassen, würde ich nicht das Wort »Frieden« wählen, denn es erscheint zu plakativ heutzutage, beinahe inhaltsleer, auch nicht das Wort »Gerechtigkeit«, denn es verändert sich je nach Sprecher:in. Ich würde das eine Wort »Empathie« wählen. Nur sie wird uns dabei helfen, die Umbrüche herbeizuführen, die uns vor den gegenwärtigen Umbrüchen retten werden.
Roy Chens neues Stück »Kafka on Fire« (Arbeitstitel) wird in der Inszenierung von Dor Aloni am 22. Mai 2025 in den Kammerspielen uraufgeführt.
Wenn ich alle Wörter aus dem Wörterbuch streichen müsste und nur eines übrig lassen, würde ich nicht das Wort »Frieden« wählen, denn es erscheint zu plakativ heutzutage, beinahe inhaltsleer, auch nicht das Wort »Gerechtigkeit«, denn es verändert sich je nach Sprecher:in. Ich würde das eine Wort »Empathie« wählen. Nur sie wird uns dabei helfen, die Umbrüche herbeizuführen, die uns vor den gegenwärtigen Umbrüchen retten werden.
Roy Chens neues Stück »Kafka on Fire« (Arbeitstitel) wird in der Inszenierung von Dor Aloni am 22. Mai 2025 in den Kammerspielen uraufgeführt.